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Über Eliten (1/4)
Wie Rousseau Trump vorhersagte

Jean-Jacques Rousseaus Angriff auf die kosmopolitischen Eliten des 18. Jahrhunderts wertet der indische Essayist Pankaj Mishra im historischen Rückblick als prophetische Tat. US-Präsident Donald Trump zog schon im Wahlkampf lautstark die ungebildeten Schichten den globalen Eliten vor, beim Brexit wurde ebenso vernehmlich gegen "unelected elites" und "experts" gewettert.

Von Pankaj Mishra | 07.05.2017
    Funken und Sterne umgeben eine Kristallkugel mit Auge darin
    Jean-Jacques Rousseaus Blick in die Zukunft (imago/Ikon Images)
    Pankaj Mishra folgert aus dieser globalen Bewegung, es sei unumgänglich, dass die vielfältigen Gesellschaften Amerikas und Europas ihre Prinzipien auf eine Weise neu definieren, die explizit andere religiöse und metaphysische Weltanschauungen anerkennen. Dazu müssen viele aus der Aufklärung stammende, überholte Denkgerüste aufgegeben werden.
    Denn die große Übereinkunft für eine universelle Zivilisation, im 18. Jahrhundert unterstützt von Montesquieu, Voltaire und Adam Smith, ähnelt dem Projekt, das in den letzten zwei Jahrzehnten in der wirtschaftlichen Globalisierung hektisch verfolgt wurde. Dieses scheint in einer globalen Revolte gegen die kosmopolitische Moderne seinen chaotischen Tiefpunkt erreicht zu haben.
    Pankaj Mishra, geboren 1969, ist Ökonom, Soziologe, Essayist und Romanautor und schreibt unter anderem für "The New Yorker". Er lebt in London und im nordindischen Bundesstaat Himachal Pradesh. 2017 veröffentlicht Mishra sein Buch "The Age of Anger. A history of the present".

    Wie Rousseau Trump vorhersagte
    Von Pankaj Mishra
    "Ich liebe die Ungebildeten", sagte Donald Trump in einer Siegesrede während des Vorwahlkampfes im Februar. Und immer wieder hat er Amerikas Eliten und ihre "falschen Lockrufe der Globalisierung" ins Visier genommen.
    Britische Wähler, die dem Aufruf der Brexit-Aktivisten folgten, die Kontrolle über ein Land "zurückzugewinnen", das angeblich durch unkontrollierte Einwanderung, "nicht gewählte Eliten" und "Experten" bedroht wird, haben 50 Jahre europäischer Integration für nichtig erklärt.
    In anderen westeuropäischen Ländern, so wie auch in Israel, Russland, Polen und Ungarn, brodelt es in einem gefährlichen Gemisch demagogischer Behauptungen ethnischer, religiöser und nationaler Identität. In Indien lenken hinduistische Suprematisten einen "gerechten Zorn" auf liberale und säkulare Eliten.
    Das im aufgeklärten 18. Jahrhundert von Voltaire, Montesquieu, Adam Smith unterstützte große Unterfangen einer durch rationales Eigeninteresse, Handel, Luxus, Kunst und Wissenschaft in Einklang gebrachten universellen Zivilisation scheint in einer globalen Revolte gegen die kosmopolitische Moderne seinen chaotischen Tiefpunkt erreicht zu haben.
    Kein Denker der Aufklärung, der unsere gegenwärtige Misere vom Jenseits aus beobachten würde, könnte mit größerer Überzeugung "Ich habe es ja gesagt" rufen als Jean-Jaques Rousseau.
    Ein unbequemer und reizbarer Autodidakt aus Genf, den Isaiah Berlin denkwürdigerweise als "streitbarsten Kulturbanausen der Geschichte" bezeichnete. Rousseaus ab den 1750er-Jahren entstandene Hauptschriften lebten von Abscheu vor der Eitelkeit der Großstädter, seinem Misstrauen gegenüber den Technokraten und dem internationalen Handel und seinem Eintreten für traditionelle Sitten.
    Voltaire: Rousseau ist ein "armer Lump"
    Voltaire, den mit Rousseau eine lange und leidenschaftliche Feindschaft verband, karikierte ihn als "armen Lumpen", der "eine brüderliche Vereinigung der Menschen auf Kosten der Ausplünderung der Reichen durch die Armen zu errichten" gedachte. Während der Zeit des Kalten Krieges stellten Kritiker wie Isaiah Berlin und Jacob Talmon Rousseau als einen Propheten des Totalitarismus dar. Und nun, da die breiten Mittelschichten des Westens stagnieren und andernorts Milliarden aus der Armut finden - unerfüllbare Träume von Wohlstand vor Augen - nun wirkt Rousseaus Besessenheit mit den psychischen Folgen der Ungleichheit noch prophetischer und verstörender.
    Rousseau beschrieb die grundlegende innere Erfahrung der Moderne: ein Außenseiter zu sein. Als er in den 1740ern im Alter von 30 Jahren nach Paris kam, war er ein entwurzelter Beobachter, der mit komplexen Gefühlen zu kämpfen hatte, mit Neid, Faszination, Ekel und Ablehnung - hervorgerufen durch eine auf sich selbst fixierte Elite.
    Von seinen Zeitgenossen in Frankreich verspottet, fand er im übrigen Europa eine begeisterte Leserschaft. Junge deutsche Denker aus der Provinz, wie die Philosophen Johann Gottlieb Fichte und Johann Gottfried von Herder - die geistigen Väter des wirtschaftlichen respektive des kulturellen Nationalismus - hegten einen enormen Groll gegen die kosmopolitischen Universalisten. Viele kleinstädtische Revolutionäre, angefangen mit Robespierre, waren von Rousseaus Buch "Der Gesellschaftsvertrag" aus dem Jahre 1762 und seiner darin erläuterten Hoffnung inspiriert, dass eine neue politische Struktur die Krankheiten einer ungleichen und kommerziellen Gesellschaft heilen könne.
    Rousseau Bestandteil aktueller Bücher
    In den letzten zehn Jahren haben eine Reihe von Büchern Rousseaus zentrale Bedeutung und Einzigartigkeit geltend gemacht. Leo Damroschs Biografie "Restless Genius" von 2005 zeichnet Rousseau als "das größte Originalgenie seiner Zeit". Er sei so originell gewesen, dass die meisten seiner Zeitgenossen nicht ansatzweise ahnen konnten, wie kraftvoll sein Denken war.
    2015 wurde "Politics in Commercial Society" von István Hont veröffentlicht, eine vergleichende Studie über Rousseau und Adam Smith, die feststellt, dass wir uns immer noch nicht über Rousseaus Ängste und Sorgen hinaus bewegt haben: Seine Befürchtungen, dass einer Gesellschaft, die von eigennützigen Individuen geschaffen wurde, notwendigerweise eine gemeinsame Moral fehlen muss.
    Heinrich Meier bietet in seinem Buch "Über das Glück des philosophischen Lebens: Reflexionen zu Rousseaus Rêveries" aus dem Jahr 2011 einen Überblick über Rousseaus Gedanken. Eine Interpretation seines letzten, unvollendeten Buchs "Träumereien eines einsamen Spaziergängers", das Rousseau im Jahre 1776, zwei Jahre vor seinem Tod, begann.
    In den Träumereien rückte Rousseau von politischen Forderungen ab und kultivierte seine Überzeugung, dass "Freiheit sich in keiner Regierungsform, sondern allein im Herzen des freien Menschen findet".
    Der Autor Pankay Mishra - hier auf der Leipziger Buchmesse 2014 auf dem "Blauen Sofa"
    Pankaj Mishra, geboren 1969, ist Ökonom, Soziologe, Essayist und Romanautor. Er lebt in London und im nordindischen Bundesstaat Himachal Pradesh. Im August eröffnete er mit einer Rede zur "Neuen Aufklärung" das Europäische Forum Alpbach. Sein Essay "Wie Rousseau Trump voraussagte" erschien zunächst im August 2016 im The New Yorker. Im kommenden Jahr veröffentlicht Mishra sein Buch "The Age of Anger. A history of the present."

    Wenn es uns heute so vorkommt, als sei Rousseau die zentrale Figur des Aufstands gegen die Eliten, der derzeit unsere Politik umgestaltet, so liegt das daran, dass er dabei war, als das neue Wertesystem geschaffen wurde. Der Glaube der Aufklärung an das, was er "die Wissenschaften, die Künste, Luxus, Handel, Gesetz" nannte, veränderte das Erscheinungsbild der westlichen Kultur und schließlich das der ganzen Welt.
    Im Allgemeinen profitierten die Literaten vom neuen Zeitalter. Rousseau jedoch wurde zu einem seiner wenigen Kritiker, was zumindest teilweise darauf zurückzuführen ist, dass er in den gesellschaftlichen Kreisen des Pariser Salons, dem Dreh- und Angelpunkt der französischen Aufklärung, nie wirklich zu Hause war.
    Rousseau genoss keine systematische Ausbildung, aber während einer weitgehend unbeaufsichtigten Kindheit und Jugend konnte er viele Erfahrungen sammeln. Geboren in Genf im Jahre 1712, als Sohn eines armen Uhrmachers - die Mutter starb kurz nach der Geburt - war er erst zehn Jahre alt, als sein Vater ihn in die Obhut gleichgültiger Verwandter gab und die Stadt verließ. Im Alter von 15 Jahren lief Rousseau davon und landete in Savoyen, wo er bald der Schützling und Gespiele einer schweizerisch-französischen Adeligen wurde, die sich als die große Liebe seines Lebens erweisen sollte. Sie führte ihn in die Welt der Bücher und der Musik ein und Rousseau, immer auf der Suche nach Ersatz für seine Mutter, nannte sie Maman.
    Verschiedene untergeordnete Stellungen
    Als er schließlich nach Paris kam, hatte er bereits in verschiedenen untergeordneten Stellungen in ganz Europa gearbeitet: als Graveur-Lehrling in Genf, als Diener in Turin, als Privatlehrer in Lyon, als Sekretär in Venedig. Leo Damrosch schreibt: Diese Erfahrungen "verliehen ihm die Legitimation, Ungleichheit so zu analysieren, wie er es später tat".
    Schon bald nach seinem Umzug nach Paris begann er ein Verhältnis mit einer analphabetischen Wäscherin, die ihm fünf Kinder gebären sollte. Und unternahm erste zaghafte Vorstöße in die Welt der Salons. Einer seiner ersten Bekannten dort war Denis Diderot, der wie er aus der Provinz stammte und sich vorgenommen hatte, das recht freie geistige Klima dieser Dekade voll auszukosten.
    Im Jahre 1751 erschienen die ersten Bände von Diderots Encyclopédie, die wichtige Erkenntnisse der französischen Aufklärung zusammenfasste: so aus Buffons "Allgemeine Naturgeschichte" von 1749 und Montesquieus enorm einflussreichem Buch "Vom Geist der Gesetze" von 1748. Die Enzyklopädie zementierte den Hauptanspruch der Bewegung: Das gesammelte Wissen von der menschlichen Welt und die Bestimmung ihrer grundlegenden Prinzipien würden den Weg des Fortschritts ebnen.
    Als überaus produktiver Mitarbeiter an der Encyclopédie, der annähernd 400 Artikel, viele davon über Politik und Musik, veröffentlichte, schien sich Rousseau dem gemeinschaftlichen Unterfangen verschrieben zu haben, die Herrschaft der Vernunft zu etablieren und, wie Diderot es formulierte, "den Künsten und Wissenschaften die Freiheit zurückzugeben, die ihnen so kostbar ist".
    Aber seine Ansichten änderten sich. An einem Nachmittag im Oktober 1749 reiste Rousseau zu einer Festung außerhalb von Paris, wo Diderot, der die Grenzen der freien Meinungsäußerung mit einer Abhandlung ausgetestet hatte, die die Existenz Gottes infrage stellte, einige Monate im Gefängnis saß. Als er auf dem Weg dorthin eine Zeitung las, entdeckte Rousseau eine Anzeige für einen Essay-Wettbewerb zum Thema: "Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?"
    In seinem Werk "Die Bekenntnisse", das im Jahre 1782 veröffentlicht wurde und wohl als erste moderne Autobiografie gelten darf, beschrieb Rousseau, wie er in dem Moment, in dem er "dieses las, ein anderes Universum erlebte und zu einem anderen Menschen wurde". Er habe sich an den Straßenrand gesetzt und die nächste Stunde in einer Art Trance verbracht - überwältigt von der Erkenntnis, dass der Fortschritt, im Gegensatz zu allem, was die Philosophen der Aufklärung über seine zivilisatorische und befreiende Wirkung zu sagen hatten, letztendlich zu neuen Formen der Versklavung führen würde.
    Es ist unwahrscheinlich, dass Rousseau seine Epiphanie auf solch theatralische Weise erhalten hat; er hatte vermutlich bereits damit begonnen, seine Ketzereien zu formulieren. Jedenfalls war sein prämierter Wettbewerbsbeitrag, der 1750 als sein erstes philosophisches Werk unter dem Titel "Abhandlung über die Wissenschaften und Künste" veröffentlicht wurde, reich an dramatischen Behauptungen.
    Die Künste und die Wissenschaften, schrieb er, "breiten Blumenkränze aus über die Ketten, an denen die Menschen liegen". Und: "Unser Geist wurde in gleichem Maße verdorben", wie das menschliche Wissen zugenommen hat.
    Rousseaus Streitschriften gegen seine Zeitgenossen
    Mitte des 18. Jahrhunderts hatten die Intellektuellen von Paris einen Zivilisationsstandard gesetzt, der anderen als Vorbild dienen sollte. Rousseaus Ansicht nach leistete die neu entstehende intellektuelle und technokratische Klasse wenig mehr, als literarische und moralische Tarnung für die Mächtigen und Ungerechten zu bieten.
    Diderot tolerierte Rousseaus Streitschrift großmütig. Er realisierte zunächst nicht, dass sie einer Kriegserklärung an sein eigenes Projekt gleichkam. Die meisten seiner Weggefährten sahen Wissenschaft und Kultur als Befreiung der Menschheit von Christentum, Judentum und anderen Überbleibseln dessen, was sie als barbarischen Aberglauben empfanden. Sie lobten das aufstrebende Bürgertum und hatten großes Vertrauen in dessen Selbsterhaltungs- und Eigennutztrieb sowie in sein wissenschaftliches, leistungsorientiertes Denken.
    Adam Smith, schottischer Moralphilosoph und Aufklärer, der als Begründer der klassischen Nationalökonomie gilt, hatte ein offenes globales Handelssystem vor Augen, das gleichermaßen von Gefühlen des Neids und der Bewunderung gegenüber den Reichen, als auch von mimetischen Wünschen nach deren Macht und Privilegien angetrieben wurde. Smith vertrat die Position, dass der menschliche Instinkt der Nachahmung zu einer positiven moralischen und sozialen Triebfeder werden konnte. Der französische Philosoph und Staatstheoretiker Montesquieu dachte, dass der Handel, dessen Natur darin besteht, die "überflüssigen Dinge nützlich und die nützlichen notwendig" zu machen, "von schädlichen Vorurteilen heilen" und "die Friedensliebe zwischen den Völkern" stärken könne.
    Voltaires Gedicht "Le Mondain" - "Über den Luxus" - stellt seinen Autor als Besitzer von feinen Wandteppichen, Silberwaren und einer prunkvollen Kutsche dar, der in Europas luxuriöser Gegenwart schwelgt und mit Verachtung auf dessen religiöse Vergangenheit herabsieht. Voltaire war ein typisches Beispiel für den eigennützigen Bürger, der Handel und Freiheit als Mittel gegen willkürliche Autorität und Hierarchie bewarb. In den 1720ern spekulierte er gewinnbringend in London und pries die dortige Börse als Tempel der säkularen Moderne:
    "Hier treten der Jude, der Türke und der Christ miteinander in Unterhaltung, als wären sie Glaubensgenossen. Und nennen nur denjenigen einen Ungläubigen, welcher bankrott ist."
    Indem sie zum Streben nach Luxus aufforderten und gleichzeitig die Redefreiheit verfochten, hatten Voltaire und die anderen eine Lebensweise formuliert und verkörpert, in der individuelle Freiheit durch gesteigerten Wohlstand und intellektuelle Verfeinerung erreicht werden konnte.
    Ausruf einer Konterrevolution
    Und gegen diese moralische und intellektuelle Revolution, die nach jahrhundertelanger Unterwerfung vor Thron und Altar stattfand, rief Rousseau seine Konterrevolution aus. Das Wort Finanzen, sagte er, sei ein "Sklaven-Wort", und die geheime Funktionsweise der Finanzsysteme sei ein "Mittel, um Diebe und Verräter zu produzieren und die Freiheit und das Gemeinwohl zu verscherbeln".
    Mit der Behauptung, dass England - trotz seiner politischen und wirtschaftlichen Macht - seinen Bürgern wahre Freiheit nur vorgaukle, nahm er den Brexit vorweg:
    "Das englische Volk wähnt, frei zu sein; da täuscht es sich außerordentlich; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in Knechtschaft, ist es nichts."
    In nahezu 20 Büchern verstärkten sich Rousseaus Einwände gegen die Intellektuellen und ihre reichen Gönner, welche sich anmaßten, anderen Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben hätten.
    Eine entscheidende Annahme teilte Rousseau mit seinen Gegnern: Nämlich die, dass das Zeitalter der kirchlichen Tyrannei und der göttlich sanktionierten Monarchie durch eine Ära des eskalierenden Egalitarismus ersetzt wurde. Aber er warnte, dass die bürgerlichen Werte von Reichtum, Eitelkeit, Prunk und Prahlerei die Entfaltung von Gleichheit, Sittlichkeit, Würde, Freiheit und Mitgefühl eher behindern als befördern würden. Er glaubte, dass eine Gesellschaft, die auf Neid und der Macht des Geldes gründete, zwar Fortschritt versprechen könne, in Wahrheit aber ihren Bürgern einen psychisch destabilisierenden Wandel auferlegen würde.
    Rousseau weigerte sich zu glauben, dass das Zusammenspiel individueller Interessen, das die neue Gesellschaft voranbringen sollte, eine natürliche Harmonie hervorbringen kann. Das Hindernis lag seiner Ansicht nach in den Seelen der "sozialen Emporkömmlinge" oder Möchtegern-Bürger, es war die Ehrsucht, das unstillbare Verlangen, sich die Anerkennung der Mitmenschen zu sichern, was dazu führt, das "jeder einzelne mehr von sich hält als von jedem anderen".
    Der "Trieb, ihr eigenes Vermögen zu vermehren, nicht so sehr aus wirklichem Bedarf, sondern aus dem Wunsch heraus, andere zu übertreffen", würde die Menschen dazu verleiten, andere unterwerfen zu wollen. Selbst die wenigen Glücklichen an der Spitze der neuen Hierarchie könnten sich nicht sicher fühlen, sie blieben dem Neid und der Missgunst der Schlechtergestellten ausgesetzt, auch, wenn dies hinter einer Fassade der Ehrerbietung und Höflichkeit verborgen wäre.
    In einer Gesellschaft, in der "jeder vorgibt, an dem Glück oder dem Ansehen der anderen zu arbeiten, und nur sein Glück auf ihre Kosten über sie zu erheben strebt", werden Gewalt, Betrug und Verrat unvermeidlich. In Rousseaus düsterer Weltsicht werden "aufrichtige Freundschaften, wirkliches Ansehen und gegründetes Vertrauen" aus der Gemeinschaft der Menschen verbannt: "Verdächte, Argwohn, Furcht, Kälte, Distanz, Hass und Verrat liegen ständig im Verborgenen."
    Widerspruch im Herzen der modernen Gesellschaft
    Dieses pathologische Innenleben war ein verheerender Widerspruch im Herzen der modernen Gesellschaft. Die Tendenz der modernen Zivilisation, ihre Mitglieder die Anerkennung derer suchen zu lassen, die sie eigentlich hassen, deformierte laut Rousseau etwas Wertvolles im "ursprünglichen" Menschen: einfache Zufriedenheit und unbewusste natürliche Selbstliebe.
    Wahre Freiheit konnte unter diesen Umständen nur erreicht werden, indem man den heuchlerischen, schmerzlich zwiegespaltenen Bourgeois überwindet, der in jedem von uns existiert. Rousseau dachte, dass er diese Wandlung vollzogen habe; mit auffälliger Akribie trennte er sich von dem aufstrebenden Manne, "einem von der Sorte, die die Rolle des Freidenkers spielen".
    In seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen schrieb er:
    "Inmitten von so viel Philosophie, Humanität, Höflichkeit und erhabenen Prinzipien haben wir nichts vorzuweisen außer einem trügerischen und oberflächlichen Äußeren: Ehre ohne Tugend, Vernunft ohne Weisheit und Vergnügen ohne Glückseligkeit."
    Rousseaus Angriffe auf die Intellektuellen mögen einen zusätzlichen Ansporn durch den Umstand erhalten haben, dass Voltaire ihn in einem anonymen Pamphlet als heuchlerischen Befürworter von Familienwerten bloßstellte: als jemanden, der seine fünf Kinder der Obhut eines Findelhaus überlassen hatte.
    Rousseaus Leben wies nicht wenige solche Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis auf - um es milde auszudrücken. Er, der Verfechter der hohen Gefühle, hatte die Angewohnheit, in dunklen Gassen zu lauern, um sich vor Frauen zu entblößen. Noch häufiger gab er sich der zwanghaften Masturbation hin, während er sie gleichzeitig in seinen Schriften aufs Schärfste verurteilte.
    Kein sonderliches Interesse an den Lebensumständen der Armen
    Wie viele, die gegen die Reichen moralisieren, zeigte Rousseau kein sonderliches Interesse an den Lebensumständen der Armen. Er ging selbstverständlich davon aus, dass seine eigene Erfahrung von sozialer Benachteiligung und Armut - obwohl er selten wirklich Not litt und ein Händchen für das Akquirieren reicher Gönner hatte - genügte, um seine Argumente denen derjenigen überlegen zu machen, die ein privilegierteres Leben geführt hatten. Wie viele selbsterklärte Opfer war er überzeugt, dass niemand wirklich den Versuch unternahm, seinen Schmerz nachzuempfinden.
    In seiner umfangreichen, aber packend und präzise formulierten Analyse, seinen Reflexionen zu Rousseaus Rêveries, weist Heinrich Meier darauf hin, dass das Epigraph, welches Rousseau seinem letzten Buch voranstellte, mit dem seines ersten Buches identisch ist.
    "Ein Barbar bin ich hier, da ich von niemandem verstanden werde."
    Und das ist noch der am wenigsten misstönende der vielen melodramatischen Klagegesänge, zu denen er während seiner von Selbstmitleid und Vorwürfen angetriebenen intellektuellen Karriere anhob.
    Doch da Rousseau seine Ideen aus persönlichen Erfahrungen von Angst, Verwirrung, Einsamkeit und Verlust schöpfte, hatte er einen guten Draht zu Menschen, die sich ausgeschlossen fühlten. Die perückentragenden Besucher der Pariser Salons, so beklagte der französische Publizist und Politiker Alexis de Tocqueville einmal, seien "dem praktischen Leben völlig verloren gegangen" und funktionierten "nur durch das Licht der Vernunft".
    Rousseau wiederum fand großen Anklang bei den Menschen, die den traumatischen Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft - vom ländlichen zum städtischen Dasein - durchlebten. Die Verkaufszahlen seiner Bücher, vor allem des Liebesromans "Julie", überflügelten die seiner Kollegen in beträchtlichem Ausmaß.
    "Julie oder Die neue Heloise" erzählt die Geschichte einer Tochter aus adeliger Familie, die sich in einen mittellosen jungen Hauslehrer verliebt - und war wohl der größte Bestseller des 18. Jahrhunderts. Wie Leo Damrosch anmerkt, handelt der Roman von Charakteren, deren "ländliche Abgeschiedenheit ihnen eine größere Integrität verlieh, als sie die weltgewandten Städter besaßen".
    Die hart erkämpfte Weisheit der Protagonisten, die sich wie ein roter Faden durch Rousseaus Romane und seine anderen Werke zieht, machten diese in gleichem Maße bei Kant in Königsberg beliebt wie bei den still-verzweifelten Provinzlern in ganz Europa.
    Rousseau hätte dem beruflichen Werdegang vieler Philosophen folgen können, die, wie Robert Darnton geschrieben hat, "pensioniert, verhätschelt und vollständig in die High Society integriert" wurden. Aber er lehnte alle Angebote, seinen Reichtum zu mehren, ab und verweigerte sich der königlichen Schirmherrschaft.
    Paranoia steigerte sich
    Mit zunehmendem Alter und Bekanntheitsgrad steigerte sich auch seine Paranoia. Er zerstritt sich mit den meisten seiner Freunde und Unterstützer, darunter auch David Hume und Denis Diderot. Viele schrieben ihn als Verrückten ab. Seine erbittertsten Auseinandersetzungen hatte er mit Voltaire.
    Doch während der Französischen Revolution wurden die beiden im Jahre 1778 verstorbenen Männer aus ihren ländlichen Gräbern geholt und einander gegenüber im Pariser Panthéon zur letzten Ruhe gesetzt. Ihre posthume Nähe, die sie gemeinsam in der patriotischen Mythologie der Revolution verankerte, hätte sie mit Entsetzen erfüllt.
    Rousseau verabscheute die Gefühllosigkeit wohlhabender Prominenter wie Voltaire. Die Reichen, schrieb er, hätten die Pflicht, "den Menschen die Ungleichheiten von Reichtum nie vor Augen zu führen". Während Voltaires größter Feind die katholische Kirche und der religiöse Glaube im Allgemeinen war, sah Rousseau, obgleich er die klerikale Autorität kritisierte, die Religion als Garant für die Alltagsmoral, als Mittel, den Armen das Leben erträglicher zu machen. Er behauptete, dass säkulare Intellektuelle "herrschsüchtige Dogmatiker" wären, die verächtlich auf die einfachen Gefühle der gewöhnlichen Menschen herabsähen und in ihrer "Intoleranz" so "grausam" wie katholische Priester schienen.
    Und im Gegensatz zu Voltaire, der die Gesellschaft von oben nach unten modernisieren wollte und despotische Monarchen als mögliche Verbündete der aufgeklärten Menschen sah, freute Rousseau sich auf eine Welt, die ohne Potentaten auskam.
    Rousseaus ideale Gesellschaft war Sparta. Klein, asketisch, autark, enorm patriotisch und trotzig unkosmopolitisch, war es die idealisierte Vision einer alten politischen Gemeinschaft, so, wie es das Kalifat des Islamischen Staates heute für radikale Islamisten ist. Wie Rousseau es sah, war der zerstörerische Trieb, sich selbst über andere zu stellen, in Sparta zu Bürgerstolz und Patriotismus sublimiert. In einer solchen Gesellschaft gab es offensichtlich keinen Platz für den universalistischen Intellektuellen, der die fernen Völker liebt, "um davon verschont zu bleiben, seine Nachbarn lieben zu müssen".
    Argumentationsgrundlage für kulturelle und wirtschaftliche Nationalisten
    Bis heute sind Rousseaus Antworten auf die kosmopolitische Kommerzialisierung die Argumentationsgrundlagen kultureller und wirtschaftlicher Nationalisten weltweit. Polens regierende Partei Recht und Gerechtigkeit, die gerade damit beschäftigt ist, die nationalen Institutionen von EU-freundlichen "liberalen Eliten" zu säubern und Homophobie und Antisemitismus propagiert, wäre hocherfreut über Rousseaus Warnungen vor "diesen Kosmopoliten, die in ihren Schriften aus weiter Ferne Pflichten herholen, deren Erfüllung sie in Bezug auf ihre eigne Umgebung verächtlich zurückweisen".
    Der mit Vorliebe gegen Muslime und Mexikaner hetzende Donald Trump könnte umfangreiche philosophische Unterstützung in "Émile oder Über die Erziehung" finden. "Jeder Patriot ist gegen die Fremden abstoßend", schrieb Rousseau, "in seinen Augen sind sie nur Menschen, sind sie nichts". Auch könnte Trump, im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Fox-News-Moderatorin Megyn Kelly - und der Damenwelt im Allgemeinen - Trost aus Rousseaus Frauenbild schöpfen, nach welchem "die Frau eigens geschaffen ist, um dem Mann zu gefallen" und "sich dem Mann liebenswert zeigen und ihn nicht herausfordern" muss.
    Es waren viele solcher Äußerungen variierender Schärfe, die dazu beitrugen, die allgemeine Wahrnehmung von Rousseau als geistigem Vater des Faschismus zu etablieren. Allerdings lassen sich viel mehr Belege dafür finden, dass er die "Gemeinschaft" nur insoweit pries, als sie mit der inneren Freiheit ihrer Mitglieder vereinbar war - mit der Freiheit des Herzens.
    "Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will", schrieb er in "Träumereien". Dieses grundlegende Misstrauen gegenüber äußeren Beschränkungen der individuellen Autonomie ging nach und nach in einen Argwohn gegen die großen und undurchsichtigen Mächte des internationalen Handels über - dies - so István Hont - ein entscheidender Unterschied zwischen Rousseau und Adam Smith.
    Der Siegeszug des kapitalistischen Imperialismus im 19. Jahrhundert und der Globalisierung der Wirtschaft nach dem Kalten Krieg erfüllte in großem Stil den aufklärerischen Traum einer weltweiten materialistischen Gesellschaft, die durch rationales Eigeninteresse zusammengehalten wurde. Voltaire erwies sich, wie Nietzsche vorausschauend geschrieben hatte, als "Vertreter der siegreichen, herrschenden Stände und ihrer Wertungen", während Rousseau wie ein schlechter Verlierer dastand.
    Vor dem heutigen Hintergrund politischer Raserei scheint Rousseau jedoch besser als jeder andere den aufwieglerischen Reiz des Opfer(da)seins in Gesellschaften, die auf das Streben nach Reichtum und Macht gründen, begriffen - und verkörpert - zu haben.
    Rousseau machte Politik zu einer sehr persönlichen Angelegenheit
    Rousseau war der erste, der Politik zu einer sehr persönlichen Angelegenheit machte. Trotz seines großen Erfolgs konnte er sich in der bestehenden gesellschaftlichen Pyramide nie sicher fühlen. Und sein empfindliches Gespür registrierte die Attraktivität des politischen Ideals eines gleichermaßen befähigten wie tugendhaften Bürgers sofort.
    Tocqueville wies darauf hin, dass die Leidenschaft für Gleichheit sich zum "Siedepunkt der Wut" steigern und autoritären Figuren und Bewegungen an die Macht helfen könne. Aber es war der sozial unangepasste Genfer - von dessen Schriften Tocqueville behauptete, sie jeden Tag zu lesen - der zuerst die Moderne für die ungerechte Art und Weise angriff, in der Macht einer vernetzten Elite zufließt.
    Die jüngsten Ausbrüche von Ressentiments gegen Schriftsteller und Journalisten sowie gegen Politiker, Technokraten, Geschäftsleute und Bankiers zeigen, dass Rousseaus "Geschichte des menschlichen Herzens" sich unter den Unzufriedenen immer noch fortsetzt.
    Die Jakobiner und die deutschen Romantiker mögen Rousseaus berühmteste und einflussreichste Jünger gewesen sein, aber Rousseaus Behauptung, dass die Großstadt eine Lasterhöhle sei und die Tugend eher gewöhnlichen Menschen innewohne, sorgt für eine immerwährende Herausforderung - von rechts und von links - an unsere unvollkommenen politischen und wirtschaftlichen Vereinbarungen.
    Es sind entwurzelte Menschen, die Rousseaus vielfältige Verletzungen teilen und mit ihren Forderungen nach radikaler Gleichheit und ihrer Sehnsucht nach Stabilität in regelmäßigen Abständen das Antlitz der modernen Welt verändern.
    Und es werden noch mehr werden, davon können wir ausgehen, während Milliarden junger Menschen in Asien und Afrika durch die Stromschnellen des Fortschritts navigieren.
    Ein Essay von Pankaj Mishra
    Aus dem Englischen von Anna Panknin. Mit Simon Roden. Technik: Katrin Fidorra. Regie: Anna Panknin. Redaktion: Barbara Schäfer.

    Erstsendung 30.10.2016