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Beschwörung der Schöpferkraft

Yorck Kronenberg hat eine musikalisch-literarische Doppelbegabung, er ist Autor und Pianist. Auch sein neuer Roman "Ex voto" ist von musikalischer Dramatik. Darin wird der deutsche Arzt Robert Sieburg verschleppt in ein fremdes Land. In faszinierenden und zugleich bedrohlichen Passagen nimmt der Autor den Leser mit ins Ungewisse.

Von Michaela Schmitz | 15.08.2011
    Um etwas Neues zu erfinden, muss man das Fremde zulassen. Fremd ist Robert Sieburg in diesem Land fast alles. Der Arzt war aus Deutschland hierhergekommen, um zu helfen. Dann hatte man ihn entführt. Aus der Steppe bringt man ihn in die Berge in ein entlegenes Dorf aus Steinhäusern; umgeben von einsamen schneebedeckten Gipfeln und umringt von riesigen Wäldern wie jenen in Märchen, die über den Anfang und über das Ende einer Geschichte hinausreichen.

    Hier im Gebirge, heißt es, reden die Götter mitunter so laut, dass die Menschen sich die Ohren zuhalten. Warum sie ihn gefangen halten, erklärt ihm der Übersetzer. Er sei ein Werkzeug der Vorsehung. Durch ihn komme die Wahrheit. Deshalb solle er seine Gedanken aufschreiben. Ein Priester werde seine Aufzeichnungen deuten.

    Diese geradezu mystische Vorstellung von Schrift überträgt sich schließlich auch auf den Gefangenen. Mit fast religiösem Glauben an die Bedeutung seiner eigenen Gedanken sucht Robert etwas ihm selbst darin verborgenes Größeres zu finden. Dabei wird ihm immer unklarer: Ist seine Dokumentation eigentlich nur eine Abschrift des tatsächlich Geschehenen; oder gibt er nicht vielmehr mit seinem Schreiben umgekehrt den Ablauf der Ereignisse allererst vor?

    Was ich sehe ist was ich schreibe ist was ich gesehen habe ist was ich sehen werde, ich kann im Kreis leben. (...) Was ich schreibe, ist wahr, weil ich es schreibe. (...) Ich kann mich überall hinschreiben. Zu Gott?

    Im zweistimmigen Wechsel mit Berichten eines anonymen allwissenden Erzählers treiben Roberts Beobachtungen die Geschichte voran. Bei einem nächtlichen Fluchtversuch findet er die Aufzeichnungen eines vor ihm entführten Gefangenen. Verzweifelt versucht er, die Notizen des spanischen Geschäftsmannes zu entziffern. War das der Mann, der bei einem archaischen nächtlichen Opferritual verbrannt wurde? Oder hat Robert die Szene nur im Alkohol-Rausch fantasiert?

    Ohne ersichtlichen Grund wird Robert von einem Dorfbewohner angeschossen. Und die Entführer müssen mit dem schwer verletzten Gefangenen auf der schaukelnden Bahre vor Regierungstruppen in den verschneiten Wald fliehen. Fieberfantasien, Kindheitserinnerungen, Fiktion und Realität werden bald ununterscheidbar ineinander verwoben. Immer wieder träumt Robert von einer winterlichen Zugfahrt als Jugendlicher, nach der er vom Tod der Eltern erfahren hatte. Im Schlaf und Wachtraum kämpft Robert mit seinen verborgensten Ängsten und Erlösungsvisionen.

    Trotz wachsender Verunsicherung beginnt Robert zunehmend, sich der Fremde anzunähern und sogar im Fremden das Eigene zu entdecken. Überrascht stellt er fest: Auch Samira spricht seine Sprache. Die Tochter des Übersetzers ist nicht weit von seinem Heimatort groß geworden. Und bald meint er, in einem seiner Träger einen Schulfreund zu erkennen.

    Wieder auf den Beinen, geht er sogar mit den Entführern auf die Jagd, lernt ihre Lieder und trägt ihre Kleider. Doch als Robert sich erneut bedroht fühlt, bemächtigt er sich eines Revolvers. Bewaffnet zieht er schließlich mit seinen Entführern bis ans Meer. Er fürchtet: Jetzt soll er geopfert werden. Doch im Moment größter Todesangst meint er, im Priester seinen Vater zu erkennen. Entfernte Personen, Räume und Zeiten, Erinnerungen, Träume, Wirklichkeit und Fiktion gehen im Initiationsritus ineinander über und werden zu einem vielstimmigen Rauschen:

    Das Rauschen von Blut in seinen Ohren war das Rauschen des Meeres war das Rauschen von Gesang eines zum Meer hin geöffneten Kreises. (...) Das Rauschen der Wogen verfing sich als Rauschen des Papiers in Roberts Aufzeichnungen.

    Erst in diesem Augenblick begreift Robert: Um sich selbst neu zu erfinden, muss man sich für das andere öffnen. Plötzlich ist er frei. Und weiß: Er wird nie mehr in sein Heimatland zurückkehren. Erst als Gefangener erkennt der Arzt: Die Identität seiner Person ist, wie alles andere auch, eine Fiktion; ein Schöpfungsakt ähnlich dem Schreiben. Dieses Dasein zu enthalten, wie ein Buch Worte enthält, sei vielleicht sogar der Zweck seines Daseins.

    "Alles, was Sie tun, ist ein Schöpfungsakt", erklärt der Übersetzer dem Arzt. In seinem Roman setzt Yorck Kronenberg die ganze Dramatik dieses Satzes in ein vielstimmiges literarisches Libretto um. "Ex voto" ist eine Beschwörung der Schöpferkraft, auch und gerade der Sprache. Um etwas Neues zu sagen, muss man das Fremde hineinlassen. In faszinierenden und zugleich bedrohlichen Passagen nimmt der Autor den Leser mit ins Fremde und Ungewisse. Er lässt sie in seinen märchenhaften Szenen, frei nach Büchners "Lenz", quasi auf dem Kopf spazieren. Dieses Kunststück über dem Abgrund des Himmels ist nur etwas für absolut schwindelfreie Leser.

    Yorck Kronenberg: "Ex voto".
    Droschl 2011, 188 Seiten, 19,00 Euro