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1.072 Seiten Erster Weltkrieg
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Vor zwölf Jahren hat Jörg Friedrich mit seinem Buch "Der Brand" gezeigt, dass er historische Debatten auslösen kann. Er beschrieb darin die verheerenden Folgen des alliierten Luftkriegs im Zweiten Weltkrieg für Deutschland. Nun hat Friedrich sich den Ersten Weltkrieg vorgenommen, und dabei nicht zuletzt die Schuldfrage.

Von Martin Hubert | 28.07.2014
    Das österreichische Thronfolgerpaar wenige Augenblicke vor dem tödlichen Attentat im offenen Wagen. Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie wurden während eines Besuchs in Sarajevo erschossen.
    Das österreichische Thronfolgerpaar wenige Augenblicke vor dem tödlichen Attentat von Sarajevo, das als ein Auslöser des Ersten Weltkriegs gilt. (dpa-Bildarchiv)
    Das Gedenkjahr 2014 hat bereits eine Flut von Bildern und Meinungen über den Ersten Weltkrieg hervorgebracht, in unzähligen Dokumentationen, Zeitungsartikeln und Büchern. Der Berliner Geschichtspublizist Jörg Friedrich möchte das offenbar noch einmal übertrumpfen. Auf über 1.000 Seiten führt er dem Leser den Ersten Weltkrieg in höchster Detailtreue vor Augen, und vergegenwärtigt Szenen und Orte dieser Katastrophe in bildhaften Nahaufnahmen. Etwa wenn er die bedrohliche Stimmung der Marneschlacht beschreibt, mit der im Herbst 1914 der verlustreiche Stellungskrieg an der Westfront begann.
    "Der 6. September gehört noch ganz dem heißesten Sommer seit Menschengedenken. Am 7. September schlägt nun das Wetter um, der Krieg und, wenn man so will, das ganze Jahrhundert. Das Tiefblau des Himmels färbt sich feldgrau, (...) und wilde Regengüsse schlagen auf die Kämpfenden ein. Auf beiden Seiten todmüde Gestalten, unausgeschlafen, aufgezehrt, mit wundgelaufenen Füßen. Trist wie die Kämpfer erstreckt sich die Landschaft, karg und düster, voll feuchter Wüsten, Kreideschlamm und Torf."
    Plastische Beschreibungen, bedenkliche Argumentation
    Ähnlich plastisch erzählt Friedrich die Diplomatie- und Militärgeschichte des Krieges. Er macht die Debatten, inneren Kämpfe, Taktiken und Täuschungsmanöver der europäischen Höfe, Parlamente und Generalstäbe sichtbar wie unter einem Vergrößerungsglas. Hier werden die Ressentiments und die Annexionsgelüste, die Naivität und die Denkfehler der maßgeblich Beteiligten deutlich. Friedrich beginnt mit der unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges, dem Attentat auf den Thronfolger von Österreich-Ungarn im Juni 1914 und seinen Folgen. Er berührt fast alle Kampfzonen des Krieges, schildert die Opfer, den Irrsinn und die fehlgeschlagenen Friedensbemühungen. Das Buch endet mit den letzten gescheiterten Offensiven der Jahre 1917 und 18, der russischen und der deutschen Revolution und einem Ausblick auf den Revanchismus der Deutschen nach der Niederlage. All das ist ein wirklich umgreifendes Kriegspanorama. Doch Friedrich präsentiert auch eine höchst bedenkliche Argumentation. Am Anfang des Krieges, stellt er noch zutreffend fest, stand ein Chaos sich wechselseitig verstärkender Eroberungsfantasien und -ängste zwischen den Mächten.
    "Allen Beteiligten der Julikrise stand die Niederlage realer vor Augen als der Erfolg: angefangen bei dem Haus Habsburg, begraben unter den Wogen des slawischen Nationalismus, Frankreich gestürmt von den Pickelhelmen, Russland wiederum überwältigt wegen seiner technisch-organisatorischen Schwerfälligkeit, Deutschland erwürgt von Angreifern und Neidern aus allen Richtungen. Wenn das militärische Scheitern so greifbar wie unausdenkbar ist, sollte man sich dieser Gefahr nicht aussetzen. Zu diesem Entschluss können jedoch nur alle Gegner gemeinsam finden; wer ihn für sich fasst, ist verloren."
    Clark, Münkler und nun Friedrich
    Bereits die Historiker Christopher Clark und Herfried Münkler haben in ihren jüngsten Büchern den Ersten Weltkrieg als Folge gegenseitiger Abhängigkeiten, Bedrohungen und Fehldeutungen interpretiert. Deutschland war aus ihrer Sicht nicht der Alleinschuldige dieses Krieges – sehr wohl aber mitverantwortlich. Jörg Friedrich gibt dieser These eine zusätzliche Wendung – und genau das ist problematisch. Er suggeriert, dass es gar nicht mehr um die Schuldfrage gehen sollte, wenn doch alle Seiten Fehler begangen hätten.
    "Es macht aber keinen Sinn, einen Verein von zwanzig Diplomaten, Ministern und Monarchen die Schuld daran zu geben, dass ein ganzer Kontinent die Wirklichkeit irrig wahrnimmt. Es kommt uns nicht zu, die Beschaffenheit des historischen Menschen abzukanzeln. Er interessiert uns."
    Friedrich interessiert sich aber vor allem dafür, den Krieg als autonome Macht zu schildern. Zwar kann er zeigen, wie sich die militärische Logik während der Kriegsjahre auf allen Seiten immer weiter durchsetzte und es irgendwann keinen Raum mehr gab für politische Lösungsansätze. Aber er zieht daraus einen voreiligen Schluss: entscheidend sei nicht, warum der Erste Weltkrieg begann, sondern einzig, warum die Kontrahenten ihn nicht rechtzeitig beendeten. Dabei belegt er doch selbst, dass das Risiko einer Expansion des Kriegs den Beteiligten von Anfang an bewusst war. Warum soll dann die spätere militärische Eigendynamik die Frage nach der politischen Verantwortung für den Beginn des Krieges überflüssig machen? Es geht darum, sie differenziert zu beantworten, und nicht darum, sie einfach durchzustreichen. Stattdessen arbeitet Friedrich mit der fragwürdigen Unterscheidung zwischen gelungenem und nicht gelungenem Krieg, wenn er schreibt.
    "Misslungen ist der Weltkrieg, indem er nicht 1915 oder 1916 liquidiert wurde, er keine der Fragen löste, um derentwillen er eingegangen wurde und in einer schlechteren Welt endete als der, aus der er kam."
    "Friedrich verschweigt nicht, relativiert aber"
    Ist also ein Krieg gelungen, wenn der Sieger schnell feststeht? Müsste man ihn dann als gelungen bezeichnen, wenn die insgesamt 17 Millionen Todesopfer zu einer besser organisierten Welt geführt hätten? Wie viel "besser" hätte die Welt denn werden müssen, um diese Opferzahl zu legitimieren? Jörg Friedrichs kühle Analyse des Krieges, die die Schuld- und Verantwortungsfrage beiseite schiebt, hat gefährliche Nebenwirkungen. Etwa wenn er die Rolle Deutschlands in Belgien zu Beginn des Krieges neu einordnet. Belgische Truppen und Bürgerwehren hatten sich dem völkerrechtswidrigen Durchmarsch deutscher Truppen entgegengestellt und dabei auch Freischärlermethoden angewendet. Die deutschen Soldaten brannten daraufhin Dörfer und Häuser nieder und erschossen Zivilisten. Friedrich verschweigt das nicht, relativiert aber:
    "Es half und hilft den Deutschen nichts, dass ihre Greuel sich im Rahmen des bei Belgiern und Briten, Franzosen und Amerikanern Üblichen bewegten. Das macht sie nicht besser. Mit der Scheinheiligkeit der Gegner darf man rechnen. Es hieße wohl, die christliche Demut übertreiben, wenn Belgier und Briten angesichts der Massenexekution Hunderter von Dörfern bekannt hätten, im Kongo und im burischen Konzentrationslager sei es weit schlimmer gewesen. Jeder büßt für seine Schmach. Die Deutschen gaben sich eine moralische Blöße und daraus wand ihnen das politische Talent der anderen einen Strick. So wurden sie zu Parias des Westens, für keinerlei Kompromisse Berührbare."
    Jörg Friedrichs Kriegspanorama hätte eigentlich ein Lehrstück für Europa werden können: dafür, wie wichtig Institutionen sind für einen dauerhaften Dialog zwischen den europäischen Staaten. Stattdessen macht er die Deutschen zu Opfern einer Schuldpropaganda, die die Sieger seiner Ansicht nach einfach geschickter nutzten. Sein Buch gibt damit revanchistischen Kräften die Chance, die deutsche Verantwortung am Ersten Weltkrieg zu bagatellisieren und umzudeuten. Es verlangt daher einen besonnenen und kritischen Leser.

    Jörg Friedrich: "14/18. Der Weg nach Versailles".
    Propyläen Verlag, 1.072 Seiten, 34,99 Euro.