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Besser als sein Ruf

In der Debatte um Zustand und Reformbedürftigkeit des Gesundheitssystems ist Nikolaus Nützels "Gesundheitspolitik ohne Rezept" ein wichtiger und besonnener Beitrag. Auch wer sich noch nie zuvor mit dem Thema befasst hat, lernt vieles, bleibt aber von unterschwelligen Manipulationsversuchen verschont. Nützel bemüht sich redlich um Neutralität, und wo er Systemfehler sieht, stellt er lieber die richtigen Fragen, statt Vorwürfe zu formulieren.

Von Florian Felix Weyh | 05.07.2007
    Sie beherrscht die Schlagzeilen in zyklischer Wiederkehr: die Gesundheitspolitik. Klagen darüber, alles sei zu teuer, zu ineffizient und obendrein ungerecht, lassen sich schon lange vernehmen. In den 50er Jahren wurde nicht minder gejammert als heute, in der Weimarer Republik nicht weniger als im Kaiserreich. Da lag die Innovation der Sozialversicherung gerade mal eine Generation zurück, doch die Beteiligten - Ärzte, Krankenkassen, Patienten und Apotheker - stritten bereits heftig um Qualität und Bezahlung. Bevor man sich freilich die Köpfe einschlägt, so das Motto des Fachjournalisten Nikolaus Nützel, sollte man wissen, worüber man streitet. Mittlerweile überblickt weder das zahlende Publikum, noch die Masse der Akteure, wie das System als Ganzes funktioniert und warum es stellenweise haarsträubende Fehlergebnisse hervorbringt. Jeder betrachtet es aus seiner beschränkten Perspektive und leitet daraus eigennützige Reformvorschläge ab. Die Ärzte sehen sich als unterbezahlt und ausgebeutet an, die Patienten fühlen sich permanent schlecht versorgt, die Krankenkassen gemolken, die Politiker zu Unrecht gescholten. Wohin man blickt: nur Verlierer. Dieser Kollektivneurose tritt Nikolaus Nützels "Gesundheitspolitik ohne Rezept" aus der Vogelperspektive entgegen. In klarer, anschaulicher Sprache versucht das Buch herauszupräparieren, was propagandistische Sprechblasen und was tatsächlich wirkungsmächtige Momente im Gesundheitswesen sind. Auch wer sich noch nie zuvor mit dem Thema befasst hat, lernt vieles, bleibt aber zugleich von unterschwelligen Manipulationsversuchen verschont. Nützel bemüht sich redlich um Neutralität, und wo er Systemfehler sieht, stellt er lieber die richtigen Fragen, statt Vorwürfe zu formulieren. Entdeckt er bürokratische Absurditäten - etwa bei den teuren und folgenlosen "Sozialwahlen" zur Gesetzlichen Krankenkasse -, belässt er es bei Beschreibungen, die in ihrer entlarvenden Komik für sich selbst sprechen.

    Naiv besehen ist schon das Fundament unseres Gesundheitssystems ein bisschen sonderbar: Der Staat treibt mit Nachdruck Geld bei den Bürgern ein, stiehlt sich dann aber aus der Verantwortung, indem er nichtstaatlichen - also von Partikularinteressen geleiteten Institutionen - die unlösbare Aufgabe der Verteilung überträgt. "Eine Aufgabe", konstatiert Nützel, "die sich von ihrer Natur her grundsätzlich nie abschließend lösen lässt. Es kann nur darum gehen, ob die Lösungen völlig unbefriedigend oder nur teilweise unbefriedigend ausfallen. Zufriedenstellend werden diese Lösungen nie sein." Denn die klassische Ökonomie beißt sich am Gesundheitssystem die Zähne aus: Kranke sind keine Kunden, Ärzte keine echten Unternehmer, in ihrer Mehrzahl aber auch keine Angestellten. Gesundheit ist kein Konsumgut und der Staat kein Pharmaforschungsunternehmen. Um dennoch alle Anforderungen zur Gesundung von Kranken mit ökonomisch vertretbaren Lösungen unter einen Hut zu bringen, verschmilzt das Gesundheitssystem planwirtschaftliche Elemente mit der Marktwirtschaft. Das funktioniert schon in der Theorie nicht, in der Praxis wird es oft ärgerlich. Absurd erscheint die Abrechnung ärztlicher Arbeitsleistungen. Weil das zur Verfügung stehende Honorar von gesamtwirtschaftlichen Faktoren abhängt, nicht aber vom tatsächlich geleisteten Arbeitseinsatz niedergelassener Ärzte, wissen diese erst am Ende eines Quartals, wie viel sie verdient haben. Das herrschende Punktesystem, das Nützel ebenso verständlich erläutert wie Fachtermini und viele andere Eigenheiten unseres Gesundheitswesens, kann somit zur Folge haben, dass ein Arzt im ersten Quartal bei wenig Arbeit einen hohen Stundenlohn erzielt, im zweiten Quartal dann aber für einen niedrigen Stundenlohn viel gearbeitet hat. Motivationspsychologisch ist diese Entkoppelung von Leistung und Lohn ziemlicher Unfug und fordert als anonymisiertes Verfahren zudem zur kreativen "Abrechnungskosmetik" auf. Die Dunkelziffer liegt dabei hoch, und erwischte Ärzte deklarieren unsaubere Abrechnungen dann gerne als "Notwehr", da unternehmerisches Handeln auf Basis solcher Unkalkulierbarkeit schlicht unmöglich sei. Hier stoßen Planwirtschaft und Marktwirtschaft knirschend aneinander, während bei der Pharmaindustrie - die sich ebenfalls auf einem stark reglementierten Pseudomarkt bewegt - regelmäßig Umsatzrenditen zwischen 20 und 25 Prozent möglich sind. Wer Scheininnovationen für den Massenmarkt entwickelt, fährt am besten ... auch dies ein falschen Motivationssignal.

    Leider, sagt Nützel, existieren keine empirischen Beweise dafür, dass die reine Staatsmedizin wie im Sozialismus oder die pure Marktwirtschaft wie in den USA bessere Ergebnisse hervorbrächten. In neun Denkanstößen ruft er zum Schluss zur Abrüstung auf: Kleine Schritte statt großer Worte sollen alle Parteien machen, immer ehrlich bleiben und Bescheidenheit üben, als Patienten wie als Ärzte. Angesprochen sind auch die Meinungsmacher in den Medien, die das herrschende System mit Wollust niederschreiben würden. Denn "die Deutschen haben im Vergleich mit anderen Staaten objektiv ein recht ordentliches Gesundheitssystem". Solange die Quadratur des Kreises missglückt, kann man mit dem Beinahe-Quadrat eigentlich ganz zufrieden sein.

    Nikolaus Nützel "Gesundheitspolitik ohne Rezept"
    dtv, 220 Seiten