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Besseres Laufen mit Oberschenkelprothese

Medizin.- Wenn der Mensch geht, passiert alles völlig automatisch: Er hebt das Bein, setzt den Fuß auf, rollt ab, zieht das andere Bein vor – einen bewussten Gedanken braucht er für all das nicht. Dabei ist das Laufen ein hochkomplexes Zusammenspiel aus Muskelkraft und Nervenreizen. Deutlich wird das besonders, wenn es darum geht, eine Oberschenkelprothese zu bauen.

Von Thomas Gith | 06.06.2011
    Wer nach einer Beinamputation eine Oberschenkelprothese benötigt, der muss sich zunächst einmal mit seinem Mobilitätsverhalten beschäftigen: Denn die perfekte Prothese gibt es nicht, sagen Medizintechniker. Alles hängt von den Bedürfnissen des Patienten ab. Gerade alten Menschen ist oft ein sicherer Stand wichtig: Das Kniegelenk der Prothese, das das künstliche Wadenbein und den Aufsatz für den verbliebenen Oberschenkelstumpf verbindet, darf also bei kleinen, unwillkürlichen Bewegungen nicht einfach wegknicken. Junge und agile Menschen können das ausgleichen – alte Menschen oft nicht mehr. Für sie sind daher häufig sehr starre Prothesengelenke sinnvoll, erläutert Marc Kraft, Professor für Medizintechnik an der TU Berlin.

    "Andere Patienten, sehr mobile Patienten, Berufstätige, brauchen Prothesen, mit denen sie dann auch in unterschiedlichen Gehgeschwindigkeiten sich bewegen können, mit denen sie eben auch beruflichen Aktivitäten nachgehen können, größere Gehgeschwindigkeiten, größere Gehstrecken absolvieren können, auch in unebenem Gelände. Und da spielt dann natürlich auch die Schwungphasensteuerung eine ganz wesentliche Rolle."

    Bei der Schwungphasensteuerung ist das Knie der Oberschenkelprothese das zentrale Element: Der Betroffene hebt beispielsweise sein Bein, um nach vorne zu gehen. Die von der Hüfte aufgebrachte Muskelkraft wird über den Oberschenkelstumpf als Bewegungsenergie in das mechanische System übertragen - und dort vor allem ins Prothesenknie.

    "Das Kniegelenk muss in der Schwungphase genauso durchschwingen, dass der Zeitraum zwischen dem Ablösen der Zehen und dem Fersenauftritt der normalen Gehgeschwindigkeit des Amputierten entspricht."

    Das Knie der Prothese sollte also idealerweise mit der gleichen Geschwindigkeit schwingen wie auch das Knie im gesunden Bein: Beschleunigung und Beugungswinkel müssen dafür identisch sein. Um das zu erreichen, werden am Kniegelenk der Prothese zunächst einmal Messsensoren angebracht.

    "Im Messsystem drin sind verbaut mehrere Dehnmessstreifen, die es uns ermöglichen, die Kinetik des Systems, also die Kräfte und Momente, zu bestimmen, die in der Prothese, also in der Gesamtprothese wirken. Und zusätzlich dazu ist noch ein bisschen Kinematik notwendig, man muss den Beugewinkel des Kniegelenks bestimmen können, und dafür sind zwei Sensoren verbaut: Einer unterhalb des Kniegelenks und einer oberhalb des Kniegelenks",

    sagt Ulrich Wegener, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt zur Gangoptimierung. Wenn also Geschwindigkeit, Beschleunigung und Weg der Prothese auch im Verhältnis zur eingesetzten Kraft erfasst sind, dann werden sie mit dem gesunden Bein verglichen – denn auch von ihm müssen die entsprechenden Daten erhoben werden. Knie- und Fußgelenk der Prothese lassen sich anschließend anhand dieser Messwerte einstellen. Und vor allem: Das tatsächliche Gangverhalten wird nicht nur in Sanitätsfachgeschäften analysiert – denn dort kann sich der Patient lediglich auf dem normalen Fußboden oder auf Laufbändern bewegen.

    "Das heißt, ich beobachte an beiden Seiten, die nichtprothetische versorgte und die prothetische versorgte, und ich kann sehr lange Strecken messen. Zum Beispiel lässt sich ein Sprint zum Bus, den man unbedingt erreichen will, komplett abbilden, so etwas ist bei einer stationären Ganganalyse nicht möglich."

    Um das Gehen in alltäglichen Situationen zu beobachten, wird das Messsystem an der Prothese befestigt. Zusätzlich soll eine entsprechende Software angeboten werden, mit der sich die Messdaten dann auch in Sanitätshäusern auswerten lassen – denn dort werden die Prothesen angepasst. Die subjektive Einschätzung für die ideale Protheseneinstellung lässt sich so durch objektive Messdaten ergänzen. Marc Kraft:

    "Wir haben verschiedene Einstellmöglichkeiten an dem beinprothetischen System, direkt am Kniegelenk, so wie man das an diesem Kniegelenk auch sieht, befinden sich Einstellmöglichkeiten für die Dämpfung des Kniegelenkes. Das heißt, ich kann die Dämpfung größer oder kleiner machen und damit in der Schwungphase bestimmen, wie schnell das Kniegelenk einmal in die Beugung geht, aber dann auch in die Strecklage geht."

    Sinnvoll ist die Forschung aber nicht nur, um das alltägliche Gehen zu erleichtern – auch die Gesundheit kann profitieren: Denn nach Angaben der Wissenschaftler können durch falsch eingestellte Prothese Folgeschäden wie Arthrose, Osteoporose oder Rückenschmerzen entstehen.