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Bestandsaufnahme der Generation 68

Protest gegen Vietnam - und Anna bekommt ihr zweites Kind. Die Kleinfamilie geht in der Kommune auf und unter. Fünfzehn Jahre später streiten die Helden des Theaterstücks ums Sorgerecht. Der Schweizer Reto Finger hat mit dem Auftragswerk "Vorstellungen und Instinkte" ein Stück über die Achtundsechziger geschrieben, das am Schauspiel Zürich aufgeführt wird.

Von Christian Gampert | 10.04.2009
    Obwohl dies vordergründig ein Stück über die 68iger-Generation ist, will der Autor Reto Finger doch viel mehr. Sicher, hier wird an einem historischen Faden entlangerzählt, der mit der APO-Revolte beginnt, manche in den Traum eines kollektiven Kommune-Lebens weiterführt und dann, wenn es gut geht, nicht im völligen Absturz, sondern in halbwegs bürgerlichen Lebensläufen endet.

    Aber 68 ist nur die Folie. Der etwas merkwürdige, hölzerne Titel "Vorstellungen und Instinkte" spannt den Bogen viel weiter: Wie Menschen von theoretischen Leitmodellen, von Vorstellungen des besseren Lebens angetrieben und doch, immer wieder, von ihren Instinkten eingeholt werden. Und diese Instinkte sind manchmal weniger fortschrittlich als die Ideale.

    Finger bietet eine Langzeitstudie: das Drama des Älterwerdens, das Altern von Liebesbeziehungen. Er beginnt mit dem Aufriss und endet quasi im Altenheim. Es geht um eine Dreierbeziehung: Hans und Anna bekommen gerade das zweite Kind; er sucht den freien Sex und die politische Aktion, sie die Geborgenheit. Und da ist immer Volker, ein Freund von Hans, aber verliebt in Anna. Gemeinsam ziehen sie in eine Kommune, wo es wild durcheinandergeht, und als Hans und Anna sich mit 40 scheiden lassen, weil Hans nach Indien will, ist Volker immer noch da. Er wird viel später mit Anna nach Kanada auswandern, und Hans wird am Ende, jedenfalls in der Züricher Uraufführung, als irre kichernder Rentner auf einer Bergkuppe sitzen, ein alter Lear, dem inzwischen sein einziger Sohn gestorben ist. Leider trägt er in Zürich dabei eine Clownsnase.

    Reto Fingers Sprache ist sanft und poetisch; und doch sind die Szenen, die Jugend und Aufbruch beschreiben, weitaus präziser als der etwas ausfransende Rest. Die Regisseurin Sandra Strunz legt das Ganze als Spiel auf der grünen Wiese an, welchselbige von der Bühnenbildnerin Katrin Hoffmann im Schiffbau ausgerollt wird; im Hintergrund eine fette Mauer, die versteinerten Verhältnisse, die, wie die Illusionen, irgendwann krachend zusammenbrechen - nämlich, als der Sohn zu Tode kommt.

    Strunz kann sich nicht entscheiden, ob sie die Aufführung als kabarettistische 68-Analyse oder eher als lyrische Befindlichkeits-Untersuchung von Leuten anlegen will, die sich ständig ausprobieren und damit ihre Gefühle überfordern. So tut sie beides. Die bluesige, traurige, Dollar-Brand-inspirierte Klaviermusik von Jonas Landerschier grundiert die Aufführung eher melancholisch; aber nebenbei singt man auch allerlei phrasenhafte Lieder, und die Punkte macht die Aufführung mit unterhaltsamer 68-Satire. Leider kippt das manchmal ins Peinliche - nach der Verlesung von Verhaltensregeln der Otto-Mühl-Kommune von 1974 ergibt sich eine bizarre gruppentherapeutische Sitzung auf Schaumstoff-Matratzen, die in eine händeklatschende Orgie mündet.

    So ist das also bei den Kommunarden - man möchte doch eher fliehen. Der Komiker André Meyer, der den ewigen Möchtegern-Liebhaber Volker spielt, bietet der tatsächlich fluchtwilligen Anna aber eine Alternative, nämlich seine Zuneigung, ganz jenseits des Kollektivs - sein hingehauchter Trivial-Song "Du darfst nicht gehen" ist eine hinreißende Shownummer, die so fein mit dem Mikrofon-Ständer spielt, dass die ganze bierernste Jeder-vögelt-mit-jedem-Ideologie dagegen einpacken kann.

    Annas Mann Hans ist bei Oliver Masucci lange Zeit ein siegesgewiss grinsender Athlet - bevor Autor Finger dem Paar den Sohn sterben lässt. Masuccis Trauerrede streift zunächst die Posen pathetischen Stadttheaters, findet dann aber zu einem verzweifelten Trostbedürfnis: Der Vater, der um den Sohn trauert, ist eine anrührende Gestalt.

    Und so hat die Inszenierung, trotz einiger überflüssiger Manierismen, auch viele intensive Momente. Reto Fingers Stück aber ist nicht Fisch, nicht Fleisch: keine 68iger-Historie, aber auch keine große Parabel über das Thema, warum Männer und Frauen nur zeitweise zueinander passen. Das Programmheft zitiert Friedrich Engels' "Der Ursprung der Familie"; Reto Finger zitiert in seinem Stück Fernando Pessoa. An den traurigen Portugiesen hätte sich auch die Regie viel mehr halten sollen.