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Gentleman, Hurenbock und Morphinsüchtiger

Der Zweite Weltkrieg ist für Polen mit demütigenden Erinnerungen verbunden, denn binnen weniger Wochen unterlag die eigene Armee der deutschen Wehrmacht. Kurz nach der Niederlage spielt der Roman des jungen Autors Szczepan Twardoch, der 2012 mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet und ein Bestseller wurde.

Von Jörg Plath | 23.06.2014
    Der Autor Szczepan Twardoch, Aufnahme vom März 2014 beim Literaturfestival lit.Cologne in Köln
    Der Autor Szczepan Twardoch, Aufnahme vom März 2014 beim Literaturfestival lit.Cologne in Köln (picture alliance / dpa)
    "Schädel. Gestank.
    Der Schädel will platzen. Die Zunge eine dürre, tote Schnecke, rau. Der Gaumen verkrustet von angetrocknetem Schleim. Der Schädel will platzen. Wüste. Gestank."
    Konstanty Willemann ist in beklagenswertem Zustand. Auch später, als sein Kater nachgelassen hat, durchziehen recht häufig Empfindungen jener Art, die gemeinhin eher diskret behandelt werden, seine Erzählung. Der Körper ist die einzige feste Größe, auf die sich Szczepan Twardochs Protagonist verlassen kann. Willemann ist zutiefst erschüttert, weshalb er oft wie eine Litanei wiederholt:
    "Das bin ich. Konstanty Willemann."
    Willemann muss sich in diesem September 1939 um sich selbst kümmern. Zwar ist seine Heimat Polen gerade von der deutschen Wehrmacht überrollt worden, seit zwei Wochen sind die Deutschen in Warschau. Doch Polen muss warten, Polen ist noch nicht verloren – bei Willemann ist das nicht so sicher. Konstanty muss sich wiederfinden, und dabei hilft ihm keiner, auch keine Ideologie, Überzeugung oder Glaube. Willemann ist ganz allein auf sich gestellt. Nur: Wer ist er?
    Das ist, ein wenig gerafft, Ausgangslage und zu einem guten Teil auch Handlung des immerhin 600-seitigen Romans von Szczepan Twardoch. "Morphin" schildert die Identitätssuche eines jungen Mannes, der ... – aber hören wir ihn selbst mit den Worten, die das ganze Buch hindurch wie ein Mantra variiert werden:
    "Ich bin ich. Ich bin Konstanty Willemann, ich mag Autos und elegante Anzüge, ich mag keine Pferde, keine Uniformen, keine Versager."
    Dass Willemann just im September 1939 keine Pferde, keine Uniformen und keine Versager mag, hat das Buch in Polen zu einem Renner werden lassen. Offenbar herrscht im Nachbarland Überdruss an der überkommenen Erzählweise vom Zweiten Weltkrieg und dem schmachvollen Ende der staatlichen Existenz. Twardoch präsentiert nämlich keine aufrechten Widerstandskämpfer und feigen Kollaborateure, die die Ehre Polens verteidigen oder mit Füßen treten, sondern neben seiner an Selbstverlust leidenden Hauptfigur eine bunte Schar von Polen.
    Abenteuerlustige sind darunter, ängstliche, unbeugsame, träumerische und solche, die nur leben wollen. Eine Frau ist einfach liebeskrank.
    Der haltlose Konstanty Willemann sucht Trost und Sicherheit in den Armen von Frauen, lieber noch in ihren Schößen. Nach der einsamen, alkoholträchtigen Nacht mit den erwähnten Katerfolgen will der Unteroffizier zunächst die Ehefrau Helena und seinen Sohn Jureczek besuchen. Doch das auf einem kleinen Abstecher zu bei einem befreundeten Arzt erstandene Morphium lässt ihn zu seiner Lieblingshure Salomé eilen, die sogleich die Spritze zückt und mit ihm in den Rausch gleitet.
    Salomé, auch Sala genannt, ist üppig, weich, weiblich, permissiv, eine Inkarnation ihres Geschlechts. Konstantys Ehefrau Helena oder Hela dagegen ist sportlich straff, hygienisch, kühl und ihrem Ehemann gegenüber sexuell restriktiv, eine Inkarnation des nicht nur in Polen herrschenden Griechenkults. Vor dem Krieg wird sie von Josef Thorak, dem neben Arno Breker bedeutendsten Bildhauer der Nationalsozialisten, nackt in Paris gezeichnet. Die Schöne fühlt sich durchaus geehrt, lehnt aber weitere Sitzungen ab, schließlich ist ihr Vater ein aufrechter polnischer Nationaldemokrat. Szczepan Twardoch hat die beiden Frauen Willemanns als Allegorien gestaltet.
    Konstanty taumelt zwischen Salomé und Helena hin und her. Helena überredet ihn, für ihren Vater eine Aktentasche in eine konspirative Wohnung zu bringen. Der widerwillige Kurier versüßt sich die Aufgabe durch einen Abstecher zu Salomé, schließlich ist noch Morphium übrig. Dort stiehlt ihm ein Freier die Aktentasche. Konstanty holt sie sich wieder, ermordet den Dieb auf bestialische Weise und übergibt das Material an die polnischen Widerstandskämpfer. Diese ahnen nichts von den dramatischen Ereignissen der letzten Stunden, ausgelöst durch die chronische Unzuverlässigkeit Willemanns, und akquirieren ihn als Mann der Stunde.
    Identitätssuche auf Polnisch
    Denn Willemann spricht Deutsch so perfekt wie Polnisch. Seine deutsche Mutter entschied sich nämlich, die Nationalität des Nachbarstaates anzunehmen und erzog ihren halbwüchsigen Sohn zum Polen. Nach dem Sieg der Deutschen ist Katarzyna wieder zu Katharine Willemann geworden und arbeitet für die Besatzer, ebenso wie ihr früherer deutscher Mann, Konstantys Vater Baldur von Strachwitz, den sie einst, als er aus dem Ersten Weltkrieg mit Verletzungen im Genitalbereich zurückkehrte, als sexuell unbrauchbar verstieß.
    Konstanty sucht beide auf. Vom Vater erhält er die Feldpolizei-Uniform, die Mutter stellt Wehrmachtssoldaten ab, mit denen er erfolglos versucht, seinen Sohn aus dem Haushalt des nationaldemokratischen Schwiegervaters zu entführen. Für den alten Peszkowski ist der Schwiegersohn fortan ein Verräter, von dessen Mitarbeit im polnischen Widerstand weiß er nichts. Die deutsche Uniform, die Konstanty für den Untergrund anzieht und für eigene Zwecke nutzt, verschärft seine Identitätskrise.
    "Ich bin Kostek Willemann, Gentleman, Verschwender, Hurenbock und Morphinsüchtiger. Geld hat mir nie gefehlt. Ich treibe mich gern mit Künstlern und Schriftstellern herum. Trieb mich. Ich mag die Frauen. Habe ein bisschen Polonistik studiert, um zu vergessen, dass ich deutscher Abstammung bin ... "
    "Ich glaube nicht, dass er ein inneres Drama durchleidet. Das wird von ihm zwar erwartet. Alle denken, er hat einen deutschen Vater, kämpft aber für uns – also ist er innerlich zerrissen. Aber ihn interessiert das kaum. Konstanty will nur sein altes Leben zurückhaben: Parties, Frauen verführen, Auto fahren, und er wird wahnsinnig, weil ihm all das verwehrt bleibt."
    Identität ist ein zentrales Thema für Szczepan Twardoch, der 1979 bei Kattowitze, im ehemaligen Oberschlesien, geboren wurde und dort heute noch lebt. "Einsame Identität" heißt einer seiner Essays, 2012 auf Deutsch veröffentlicht im Jahrbuch des Deutschen Polen Instituts, in dem er über deutsche und polnische Verwandte nachdenkt. Twardoch lebt vom Schreiben, die 18 Monate, die er in seinem Leben angestellt war, um für einen Buchverlag Titel zu akquirieren, nennt er seine schlimmste Zeit.
    Elf Bücher hat er schon veröffentlicht, dazu unzählige Artikel in polnischen Zeitungen, konservativen wie liberalen, auch christlichen. "Morphin" wurde mit dem angesehenen Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet und ein Bestseller – sicher auch wegen der Identitätsproblematik, die nicht nur Twardoch umtreibt.
    "Alle meine Vorfahren waren Schlesier. Sie lebten in der Gegend, in der ich heute noch lebe. Die Gräber meiner Großeltern sind nur zehn Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Einige meiner Vorfahren wählten die polnische Identität, andere die deutsche, und viele weigerten sich, überhaupt zu wählen, sie gaben einfach keine Antwort. Heute ist das einfach, aber damals konnte eine falsche Antwort auf diese Frage den Tod bedeuten. Sie sagten einfach: Wir sind von hier."
    "Morphin" überzeugt immer dann, wenn Twardoch sich dem Tempo überlassen kann, wenn sein junger wilder Mann, der sich dummerweise in einer unangenehmen historischen Situation befindet, seinen Hedonismus ausleben kann. Die Darstellung seelischer Nöte liegt Twardoch weniger als die von Action- und Kolportageszenen. Ihre Verbindung zu einer Handlung jedoch klappert ziemlich. Willemann erhält immer neue Aufträge, muss dies oder jenes tun, und nicht nur die Aufträge des polnischen Widerstands sind ausgesprochen wolkig formuliert.
    Der Laufbursche Willemann steht im Mittelpunkt des Romans, er redet unentwegt oder wird unentwegt mit einem "du" vom Erzähler angesprochen – doch ein Charakter wird nicht aus ihm. Er bleibt eine hedonistische Type. Man muss den von Olaf Kühl stilsicher und atmosphärisch übersetzten Roman schnell lesen, als verzehrenden, in eine fremde, gleichwohl historisch präzis evozierte Welt führenden Rausch, und das liegt durchaus im Sinn des Autors.
    "Ich brauche die historischen Details, um schreiben zu können. Sie müssen präzise sein, ich kann sie nicht erfinden. Mit ihnen gebe ich dem Leser die Chance, in einer Romanwelt aufzugehen. Mein größtes Ziel als Autor ist es zu erreichen, dass der Leser vergisst, dass er liest. Er oder sie geraten in die Welt des Romans. So lese ich auch. Wenn ich lese, will ich vergessen, dass ich lese. Ich brauche dieses Einswerden."
    Szczepan Twardoch: "Morphin". Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
    Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 2014. 589 Seiten, 22,95 Euro

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