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Russland
Hunger nach Freiheit - Der Fall Oleg Senzow

Vor drei Jahren wurde der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow in Russland zu 20 Jahren Haft verurteilt. Der angebliche Beweis war von Mitgefangenen durch Folter erpresst worden. Senzow ist seit über 100 Tagen im Hungerstreik. Bislang reichten Solidaritätsbekundungen nicht, um seine Freilassung zu erreichen.

Von Sabine Adler | 25.08.2018
    Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow im Dezember 2014
    Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow im Dezember 2014 (imago / ITAR-TASS)
    Der Countdown läuft, für Familie, Freunde und Gleichgesinnte ist es ein Wettlauf mit der Angst. Oleg Senzow befindet sich in Labytnangi, in einer kaum besiedelte Gegend, in der zu Stalins Zeiten zahlreiche Straflager entstanden. Ganz in der Nähe ist eines der bekanntesten: der Gulag-Ort Workuta. Zwischen Oleg Senzow im russischen Nordpolarkreis und seinen Angehörigen auf der Krim liegen über 5.000 Kilometer, der Familie bleiben nur Briefe und das Telefon.
    "Hallo? Hallo! Bei uns ist alles gut." Die Großmutter gibt Senzows Tochter, ihrer Enkelin, das Handy. Die fängt sofort an zu weinen, sie würde ihn so sehr vergessen. Der Sohn ist an der Reihe, weiß nicht, was er dem Vater sagen soll. "Sag Hallo", drängt die Großmutter, sag: "Ich warte auf dich."
    Brief der Mutter an Putin
    Ludmila Senzowa, Oleg Senzows Mutter, die die Enkel hütet, hat den russischen Präsidenten gebeten, ihren Sohn zu begnadigen. Sie sorgt sich um ihn und um ihren Enkel. Der Junge sei autistisch und könne ohne den Vater nicht leben. Das schrieb Senzows Mutter auch an Wladimir Putin. Aus der Präsidialadministration kam als Antwort der Verweis auf die Regeln für Begnadigungen. Demnach müsse sich der Häftling persönlich an den Präsidenten wenden. Die russische Menschenrechtsorganisation Agora, die Senzow vor Gericht zur Seite steht, erklärte im Namen ihres Mandanten, dass Senzow Putin nicht um Milde bitten werde.
    2013 hat der Präsident den ebenfalls zu 20 Jahren Haft verurteilten Ölmagnaten Michail Chodorkwoskij, dessen Mutter todkrank war, nach 10 Jahren Haft begnadigt - ohne ein entsprechendes Gesuch. Alle Appelle, die Putin wegen Oleg Senzow erreichen, wehrte er bislang ab. Mit der immer gleichen Begründung: Der Regisseur sei nicht wegen seiner Filme in Haft.
    "Sagen Sie bitte, was wir tun sollen, wenn sich ein Regisseur darauf vorbereitet hat, Terrorakte zu verüben? Soll man ihn freilassen, nur weil er Regisseur ist? Wie soll man ihn von jemandem anders unterscheiden, der genau das gleiche vorhatte? Über eine Amnestie kann man nachdenken, dagegen habe ich nichts."
    Kafkaesker Prozess
    Bei anderer Gelegenheit schlug Putin einen umfassenden Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland vor. Das sei unmöglich, sagt jetzt ausrechnet die Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation, Tatjana Moskalkowa, weil Senzow russischer Staatsbürger sei. Der ohnehin kafkaeske Prozess gegen Senzow geht damit in eine neue Runde, denn Senzow versteht sich selbst als Ukrainer. Während des Prozesses hatte er erklärt: "Ich protestiere gegen den Versuch, mir die ukrainische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Ich war, bin und bleibe Ukrainer."
    Erst die russischen Besatzer haben die Einwohner der Krim zu russischen Staatsbürgern erklärt. Nur wer den Behörden gegenüber ausdrücklich ablehnte, Russe zu werden, blieb Ukrainer. Als das noch möglich war, saß Senzow aber bereits im Gefängnis.
    2012 bekam der heute 42-jährige Regisseur aus Simferopol einen russischen Filmpreis für seinen Science Fiction "Gamer", "Spieler". Seine Bekanntheit hat ihn so wenig geschützt wie Michail Chodorkowskij oder den Moskauer Theaterregisseur Kirill Serebrennikow, der seit einem Jahr unter Hausarrest steht. Viel mehr dürften alle drei als wohlgewählte Exempel gelten.
    Die Bekanntheit sei nötig für einen Schauprozess, sagt der Moskauer Journalist Kirill Rogow, der unter anderem für die unabhängige Zeitung Nowaja Gaseta schrieb. "Die fabrizierten Anschuldigungen sind kein Fehler der Ermittler, sondern Teil von Schauprozessen, die ein autoritäres Regime für die Repressionen einsetzt. Sie sind eine Warnung an die Elite, die Aktivsten, die Bevölkerung, wie sich die Machthaber verhalten werden in ähnlichen Fällen. Diese absurden Beschuldigungen sollen demonstrieren, dass alle dieser Maschinerie schutzlos ausgeliefert sind. Die Angst und die Bekanntheit sind wichtige Elemente, denn sie demonstrieren: Bekanntheit schützt dich nicht. Das war das Prinzip Chodorkowskij. Wenn du so mit dem wichtigsten Oligarchen verfährst, kannst es mit den anderen erst recht und so bringst du alle zum Schweigen."
    30 Kilo Gewicht verloren
    Dieser Lärm ist gewollt, sagt der russische Journalist, in dem Dokumentarfilm "Der Prozess - Der russische Staat gegen Oleg Senzow" von Oleg Jaremtschuk. Nach mehr als 100 Tagen im Hungerstreik soll Oleg Senzow, der Mann mit der Statur eines Basketballers, 30 Kilogramm Gewicht verloren haben und wird jetzt angeblich mit Nährlösungen am Leben gehalten.
    Am 25. August 2015 als sein Urteil gesprochen wurde, war er ungebrochen kämpferisch: "Ein Drittel der russischen Bevölkerung glaubt der allmächtigen Propaganda in ihrem Land nicht und weiß, welche furchtbaren Verbrechen ihre Regierung verübt. Aber die Menschen haben Angst, denken, dass sie nichts ausrichten können, dass sie zu wenige sind. Sie sitzen wie Mäuschen in den Kellern. Wir hatten auch eine verbrecherische Regierung, aber wir haben uns gegen sie erhoben. So etwas wird bei Ihnen auch geschehen, ich weiß nicht wie, aber früher oder später passiert das. Diesem schweigenden Drittel der Bevölkerung sage ich: Schweigen Sie nicht, haben Sie keine Angst."