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Besuch bei einer 101-Jährigen
"Ich hab' mein Leben gehabt"

Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, die Nazi-Zeit: Hildegard Meyer blickt auf ein bewegtes Leben zurück - das ihr neben Leid und Schwere aber auch einen Sohn, zwei Enkelkinder und fünf Urenkelkinder geschenkt hat. Viel Energie hat sie bis heute - dank turnen, tanzen und singen.

Von Johannes Kulms | 08.02.2019
    Hildegard Meyer
    Vor wenigen Wochen hat Hildegard Meyer ihren 101. Geburtstag gefeiert (Deutschlandradio / Johannes Kulms)
    Wenn junge Menschen heute sagen, das Leben und die Welt seien kompliziert, dann nickt Hildegard Meyer.
    "Ich denke auch, dass es früher schöner war. In meiner Jugend. Es war viel ruhiger. Und diese Üppigkeit, die heute existiert, die kann ich nicht für gut halten. Die Wegwerfgesellschaft, die wir heute sind. Finde ich als alter Mensch nicht gut. Ich hab‘ ja ganz andere Zeiten durchlebt in jungen Jahren."
    "Es gibt Stunden, wo es noch ganz schön ist"
    Tatsächlich hat Hildegard Meyer vieles mitgemacht. Noch vor Ende des Ersten Weltkriegs wurde sie geboren, am 9. Dezember 1917. Als jüngstes von neun Kindern in der Schleswig-Holsteinischen Provinz.
    Sie hat die Weimarer Republik miterlebt und die Nazi-Zeit, wurde in Hamburg ausgebombt. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurde ihr Mann eingezogen, der später in russischer Gefangenschaft starb. Hildegard Meyer boxte sich und ihren Sohn danach weiter durch. Half bei anderen Menschen im Haushalt oder in der Landwirtschaft und kam bei ihren Eltern unter.
    Vor wenigen Wochen hat die kleine zierliche Frau ihren 101. Geburtstag gefeiert.
    "Es gibt Stunden, wo es noch ganz schön ist. Im großen und ganzen möchte ich eher heute wie morgen gehen. Bin ich ganz ehrlich. Ich hab‘ mein Leben gehabt. Und was auf mich zukommt, das wird ja immer beschwerlicher."
    Weitgehend selbstständiges Leben
    Meyer sitzt in einem Sessel in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung in Neumünster. Sie hat kurze weiße Haare und lacht viel. Zwei Mal am Tag kommen Mitarbeiter des Pflegedienstes vorbei, helfen zum Beispiel beim Waschen und Anziehen und gehen regelmäßig mit ihr einkaufen und spazieren. Doch insgesamt lebt Meyer weiterhin ziemlich selbstständig.
    "Ich kriege Mittagstisch und brutzel auch noch ganz gern selber was für mich. Wenn Kartoffeln über sind – ich bin ein Mensch, der nichts wegschmeißt – , dann mach' ich mir Bratkartoffeln, die ich mit Vorliebe esse. Hab' immer etwas durchwachsenen Speck zu Hause mit Zwiebel – so was denn. Gestern hab' ich mir mitgebracht: Waldmeisterpudding. Ich will mir mal einen Waldmeisterpudding machen!"
    Ehemann in der heutigen Ukraine begraben
    Hildegard Meyer ist ihr Alter nicht anzumerken. Während des anderthalbstündigen Gesprächs wiederholt sie sich kein einziges Mal. Viele Ereignisse in ihrem Leben kann sie präzise zuordnen. Einem Jahr, einem Monat oder sogar einem Tag. Zum Beispiel jenen Morgen des 1. März 1945, an dem ihr Mann doch noch eingezogen wurde von Hitlers Truppen.
    "Ich hab' ihn ja morgens zur Bahn gebracht von Hardebek nach Brokstedt, zu Fuß eine Dreiviertelstunde Weg."
    Vor knapp zehn Jahren gelang es ihrem Sohn, herauszufinden, wo in der heutigen Ukraine der verstorbene Vater und Ehemann begraben wurde. Hildegard Meyer hat die Unterlagen in ihrem Wohnzimmerschrank. Dort liegt auch eine Textsammlung, in der sie ihr Leben aufgeschrieben hat.
    "Das haben meine Kinder noch nicht gesehen, das finden sie dann, wenn sie meine Schränke leer machen."
    Lesen, turnen, tanzen, singen
    Es ist ein bewegtes Leben, das ihr einen Sohn, zwei Enkelkinder und fünf Urenkelkinder geschenkt hat. Vielleicht liege es an ihren Genen, dass sie so alt geworden sei. Aber auch ihrer Neugier auf Neues und ihrer Freude am Lesen. Bis zum letzten Jahr habe sie noch regelmäßig gelesen, nun sei es schwieriger wegen der Augen, sagt Meyer. Sie greift zur Seniorenzeitung und einem Artikel mit dem Foto des US-Schauspielers John Travolta.
    "‘In Schlaghosen zur Disco – Schrille Kostüme und spitze Zungen‘ – ja, das kann ich noch."
    Sowieso: Die Gymnastik, das Tanzen und das Singen haben Hildegard Meyer viel Energie gegeben. Bis zum letzten Jahr hat sie noch im Chor gesungen. Vor allem Volkslieder. Jetzt klappe es leider nicht mehr mit dem Singen. Aber als die 101-jährige Dame über eine Textstelle ihres Lieblingslieds nachdenkt fängt sie dann plötzlich doch an:
    "Wer recht in Freuden wandern will
    Der geh‘ der Sonn entgegen!
    Da ist die Welt so kirchenstill
    Kein Lüftchen mag sich regen
    Noch sind nicht die Lerchen wach
    Nur im hohen Gras der Bach
    Singt leise den Morgensegen."
    "Vielen, vielen Dank. Das Lied kannte ich noch nicht, aber es war sehr schön!"
    "Nee, wer kennt heut‘ noch Volkslieder. Sie doch nicht. Sie sind doch so´n junger Spund!"
    Der 33-jährige Besucher lässt das so stehen und verlässt beflügelt die Wohnung von Hildegard Meyer.