Dienstag, 16. April 2024

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Bewerbung um EM 2024
Das türkische Fußballnetzwerk

Am 27. September entscheidet sich, ob entweder die Türkei oder Deutschland die Fußball-EM 2024 ausrichten wird. Eines wird in der Türkei allerdings jetzt schon deutlich: Im Zuge der EM-Bewerbung hat sich ein dichtes Netzwerk zwischen Regierung, Regionalverwaltungen und Bauindustrie gebildet.

Von Ronny Blaschke | 22.09.2018
    Bau des neuen Stadion von Bursaspor.
    Der Bau und die Sanierung von 30 Stadien gelten in der Türkei als Symbol für das hohe Wirtschaftswachstum (imago sportfotodienst)
    Am Donnerstag wird die Fußball-Europameisterschaft 2024 entweder nach Deutschland oder an die Türkei vergeben. Die Türkei warb in den vergangenen Jahren vor allem mit ihrer Infrastruktur. Bald wird der weltweit größte Flughafen in Istanbul eröffnet, zudem entstanden Brücken, Straßen und Moscheen. Auch der Bau und die Sanierung von 30 Stadien galten als Symbol für das hohe Wirtschaftswachstum. Selbst wenn die Türkei nun in der Währungskrise die EM nicht erhalten sollte: Die Stadionindustrie dürfte das Netzwerk der Regierung mit Bauunternehmern und Regionalverwaltungen langfristig stützen.
    Im Juli 2014 wurde das Stadion von Başakşehir eingeweiht, in einem konservativ geprägten Vorort von Istanbul. Der damalige Ministerpräsident Erdoğan führte eine Auswahl von Politikern aufs Feld, im Eröffnungsspiel schoss er drei Tore. Seine Rückennummer 12 wird im Verein nicht mehr vergeben. Erdoğan hatte sich schon als Oberbürgermeister von Istanbul in den Neunziger Jahren für die Stadtentwicklung Başakşehirs eingesetzt. Funktionäre und Sponsoren des Vereins sind seit Jahren eng mit Regierungspolitikern verbunden, erzählt Patrick Keddie. Der britische Journalist hat vor kurzem ein Buch über den türkischen Fußball veröffentlicht.
    Patrick Keddie
    Patrick Keddie (Deutschlandradio/ Ronny Blsschke)
    "Die AKP-Regierung hat versucht, ihre eigene konservative Mittelschicht aufzubauen. Ein Mittel dafür war der Bausektor. Die Wirtschaftselite der Türkei hatte sich über Jahrzehnte an den säkularen Werten des Staatsgründers Atatürk orientiert. Erdoğan und seine Gefolgsleute haben dann immer mehr Bauaufträge an islamisch-konservative Firmen übertragen. Für Flughäfen, Straßen, Moscheen – und Fußballstadien. So kann die Politik ihre Ideologie auf einfache Art verbreiten. Seht her, wir schaffen etwas!"
    Politiker übernehmen oft Posten in Vereinsvorständen
    Bis zum Währungsverfall in diesem Sommer hatte die Türkei ein überdurchschnittlich hohes Wirtschaftswachstum, auch wegen der international vernetzten Bauindustrie. Seit Beginn des Jahrtausends wurde die Errichtung von dreißig Stadien in 27 Städten auf den Weg gebracht. Selbstbewusst verkündete die Regierung ihre Kostenbeteiligung von einer Milliarde Euro. Transparente Ausschreibungen oder eine Bürgerbeteiligung habe es laut Patrick Keddie selten gegeben.
    Die Stadien sind oft in Besitz der Regionalverwaltungen, sagt der deutschtürkische Kolumnist Mehmet Tanli, und spricht über eine mögliche EM 2024: "Also wenn die Türkei das bekommt, davon profitieren mehr die Baulöwen als die Bevölkerung. Zum Beispiel sitzen viele Oberbürgermeister oder Abgeordnete in den Vorständen der Vereine. Es gibt auch Mannschaften von Stadtverwaltungen. Başakşehir war so eine."
    Fußballgeschichte ist nicht mehr sichtbar
    Das Stadion von Başakşehir, einem der Lieblingsvereine Erdoğans, wurde in nur 16 Monaten errichtet. Der Klub ist in wenigen Jahren ins Spitzenfeld der Süper Lig vorgestoßen. Er ist gut vernetzt mit Sportministerium, Fußballverband, Sportmedien. Zudem will er eines der modernsten Trainingszentren etablieren. Doch auch über das Sportliche hinaus haben Stadien vor allem für mittelgroße Städte einen besonderen Wert, sagt der Sportjournalist Volkan Ağır.
    "Viele alte Stadien lagen in den Stadtzentren und waren gut angebunden. Sie wurden abgerissen, und auf den wertvollen Grundstücken entstehen dann Einkaufszentren und Wohngebäude. Vor allem die Netzwerke der AKP profitieren langfristig. Die neuen Stadien werden oft in konservativ geprägten Außenbezirken errichtet, die dadurch ebenfalls aufgewertet sind. Ein Beispiel ist das neue Stadion von Galatasaray Istanbul. Es liegt draußen in der Abgeschiedenheit. Fußballgeschichte ist nicht mehr sichtbar."
    Historische Zeichen der Säkularisierung verschwinden
    Zwölf alte Stadien waren nach Atatürk oder seinen Weggefährten benannt. Sie hatten die Türkei nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches modernisiert – und Staat und Religion voneinander getrennt. Bei den Neubauten ist von diesem säkularen Erbe kaum etwas zu spüren. In Istanbul war das alte Stadion im regierungskritischen Bezirk Beşiktaş nach İsmet İnönü benannt, einem Freund Atatürks – das neue trägt den Namen eines Mobilfunkunternehmens. Erdoğan forderte sogar, dass Stadien nicht mehr als Arenen bezeichnet werden dürfen. Ein Beispiel von vielen, wie die AKP westliche Symbole zurückdränge, erzählt Emre, ein Fan von Beşiktaş.
    "Physisch ist Erdoğan nicht oft in den Stadien – seine Ideologie ist es sehr wohl. Er mag Symbole, die sich an die osmanische Kultur anlehnen. Und gerade in konservativ geprägten Gegenden sind immer mehr nationalistische und islamische Gesänge zu hören. Bei Klubs wie Konyaspor oder Osmanlıspor. Başakşehir zum Beispiel hat viel Geld, aber wenige Fans. Es gibt Gerüchte, wonach Zuschauer für einen Besuch bezahlt worden sind. Damit das Stadion nicht so leer aussieht. Leute wie uns schreckt das ab."
    Erdoğan zeigt sich nach Siegen mitunter in der Kabine von Başakşehir. Das Stadion aus seinem Istanbuler Heimatviertel Kasımpaşa trägt sogar seinen Namen. Der Türkische Fußballverband preist die neuen Stadien als wichtigstes Argument seiner Bewerbung für die EM 2024. Dass an manchen Standorten verdeckte Provisionen geflossen und Arbeitsrechte eingeschränkt worden sein sollen, thematisiert er nicht. Der Stadienbau hat den Konjunkturaufschwung versinnbildlicht, doch diese Erzählung könnte bald zu Ende sein, sagt Felix Schmidt, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul.
    Bürde durch ausufernde Betriebskosten
    "Die Verschuldung der Firmen ist enorm. Meistens in Devisen, die Verschuldung. Und jetzt mit dem Verfall der türkischen Lira werden die Schulden einfach nicht mehr bedienbar sein. Und deswegen werden wir, fürchte ich, in der nächsten Zeit eine Art Pleitewelle sehen. Und wenn jetzt die Konjunktur auch noch abschmiert, dann wird es viele Arbeitsplatzverluste geben, viele unbediente Schulden geben."
    In den vergangenen vier Jahren ist der Zuschauerschnitt in der Süper Lig um ein Drittel gesunken. Können die Stadien in einer Wirtschaftskrise durch ausufernde Betriebskosten zur Bürde werden? Die türkische Regierung hofft, dass mit der EM 2024 Investoren ins Land kommen würden. Immer wieder hat sich Erdoğan mit prominenten Fußballern und Trainer abgelichtet. Auch 2011 bei der Eröffnung des neuen Stadions von Galatasaray Istanbul. Die Fans pfiffen ihn jedoch aus. Wütend verließ er das Stadion, noch vor der Partie.