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Bewusstsein auf dem Prüfstand

Der Blick auf ein Bild ist der Blick in eine physikfreie Zone. So sagt es Lambert Wiesing. Mit der neuen Studie "Das Mich der Wahrnehmung" knüpft der Phänomenologe an die "Artifizielle Präsenz" und die Besonderheiten des Bildmotivs im Hinblick auf seinen ontologischen Status an.

Von Thomas Palzer | 05.05.2010
    Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?

    Diese Frage gilt als Urknall der Philosophie. Dabei ist sie nicht ganz korrekt gestellt. Denn wie selbstverständlich setzt sie das Weltbild des Menschen ineins mit dem Weltzustand schlechthin. Weniger anthropozentrisch, müsste die Frage lauten:

    Warum nehmen wir etwas wahr und nicht vielmehr nichts?

    Anders ausgedrückt: Warum gibt es Wahrnehmungen? Und was kann uns von ihnen erlösen? Denn die Welt, wir wissen es alle, kann einem deutlich zu nahe treten. Dass wir Wahrnehmende sind – also Wesen, die außer uns selbst noch anderes wahrnehmen -, ist verwunderlich. Warum nehmen wir wahr? Keiner hat darauf bislang eine triftige Antwort gefunden. Aber Wahrnehmungen zu haben, das können wir nicht bezweifeln. Das Wissen des Menschen um seine eigene Lage ist Thema der Phänomenologie – jener philosophischen Schule, die zur vergangenen Jahrhundertwende mit dem Schlachtruf ...

    Zu den Sachen selbst!

    ... Schluss machen wollte mit wilhelminischem Stuck und verknöchertem Akademismus, wie er den damaligen Universitätsbetrieb beherrschte. Die Phänomenologie reagierte auf Oberflächlichkeit und Hektik der Stadt und verherrlichte, wie Ulrich Raulff in der Studie "Kreis ohne Meister" über das Nachleben Stefan Georges, eines Zeitgenossen der Phänomenologie, treffend sagt,

    "das Phänomen (...), die Erscheinung, die Epiphanie."

    Martin Heidegger war Schüler des Begründers der Phänomenologie, war Schüler von Edmund Husserl. Heidegger beschäftigte die Frage, "was" es denn sei, das es da gibt, wenn es Wahrnehmungen gibt. Er benannte seine Antworten mit schwergewichtigen Titeln wie das Sein, das Offene, die Lichtung.

    In seinen Worten lichtet die Lichtung das Sein des Seienden.

    Das Sein, das Offene, die Lichtung.

    Für unsere Ohren klingt das mehr nach Stefan George denn nach Philosophie. Der Jenaer Philosoph und Bildtheoretiker Lambert Wiesing hat nun Heideggers Lichtung fulminant in einen wahrnehmungstheoretischen Essay übersetzt, der den zunächst leicht irritierenden Titel trägt "Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie". Auch für Wiesing ist die Lichtung Lichtblick. Der Phänomenologe lässt keinen Zweifel daran, dass er die Denktraditionen, die das Subjekt in den Mittelpunkt rücken, für zu eindimensional hält.

    Nach Wiesing ist es das Wahrgenommene, das als Wahrgenommenes Welt stiftet und so Licht ins Dunkel bringt. Im Zentrum steht nicht der Wahrnehmende, sondern die Wahrnehmung selbst – die Tatsache, dass es die verschiedenen Wahrnehmungen sind, die den Wahrnehmenden hervorbringen, weil sie ihn zu demjenigen machen, der sie erleiden muss. Dabei bleibt die Existenz von Wahrnehmungen selbst nicht erklärbar. Dass wir wahrnehmen und nicht vielmehr nicht, ist das Rätsel. Mit dieser im Hinblick auf die Tradition inversen Sichtweise verschafft Wiesing der Phänomenologie eine erstaunliche Wiederauferstehung – und das ziemlich genau 100 Jahre nach ihrer Erstgeburt.

    "Weil es meine Wahrnehmung gibt, gibt es mich in der Welt."

    Auf den Buchrücken abgedruckt, verblüfft die Aussage des Jenaer Philosophen durch ihre Provokation.

    Wie? Was? Ich bin es doch, der wahrnimmt, denkt man reflexhaft – und hat wieder die Pfeile aus dem Schulbuch vor Augen, die von einer Person wegzielen auf das, was diese Person wahrnimmt. Und nun soll es plötzlich umgekehrt sein? Der Pfeil vom Wahrgenommenen auf den Wahrnehmenden zeigen? Das traditionelle Primat des Wahrnehmenden durch ein Primat der Wahrnehmung ersetzt werden? Wir fragen mit Wiesing: Was bedeutet das Primat des Wahrnehmenden? Es behauptet, dass es gewissermaßen die Absicht des Wahrnehmenden wäre, den Baum da drüben wahrzunehmen. Doch, wenn man darüber unter Anleitung des Phänomenologen nachdenkt, wird schnell klar, dass es doch eher so ist, dass man von dem Baum da drüben genötigt wird, ihn als wahr und wirklich zu nehmen.

    Die Welt drängt sich uns auf. Heideggers eher schüchterne Lichtung verwandelt sich unter den charmanten wie schneidenden Ausführungen Wiesings zu einem Strudel, der uns in sich hineinreißt. Die Lichtung ist eher eine Art Schwarzes Loch.

    Die Wirklichkeit einer Wahrnehmung verurteilt den Wahrnehmenden zum Dasein in einer anwesenden und gegenwärtigen Welt: zur anstrengenden Daueranwesenheit in der Gegenwart. Was für eine kategorische Nötigung: Weil ich wahrnehme, wird mir zumute, in einer Welt zu sein, die existent und präsent, anwesend und wirklich ist!

    "Das besagt nicht weniger, als dass das Gesehene demjenigen, der sieht, unausweichlich und instantan an seiner Welt teilzunehmen zwingt, zu ihr in Bezug setzt. Weil die Wahrnehmung, die ich habe, unbestreitbar und unbestreitbar wirklich ist, finde ich mich mitten in der Welt wieder – wie Alice sich in einer Wunderwelt wiederfindet, nachdem sie in ein Kaninchenloch geplumpst ist."

    Deshalb gilt es davon auszugehen, dass nicht ich meine Wahrnehmung der Welt hervorbringe, sondern meine Wahrnehmung der Welt mit der Folge verbunden ist, dass ich in ihr vorkomme.

    Gründlich und bestechend nachvollziehbar räumt der Jenaer Philosoph mit dem von praktisch allen Philosophenschulen geteilten Vorurteil auf, der Mensch verfügte lediglich über Zugänge zur Welt – über, polemisch gesprochen, marsianische canali – unmöglich sei es ihm, die Welt direkt und unvermittelt wahrzunehmen. Dann aber wären nur Medien in der Lage, etwas gegeben sein zu lassen: Der Mensch befände sich in der perfekten Gummizelle.

    Sagen wir es so: Es gibt Bäume. Wenn aber stimmt, dass Bäume, wie es zunächst einmal nur die deutsche Syntax verlangt, gegeben sind, dann sind dem Selbstermächtigungsgestus des spätmodernen Subjekts deutliche Grenzen gesetzt. Dann ist das Subjekt bzw. sein neuronaler Apparat nicht Konstrukteur der Welt, der alles, was zu sehen ist, sich selbst vormacht, vielmehr wären es die Bäume, die den, der das Erlebnis ihrer Wahrnehmung hat, zum Subjekt der Wahrnehmungszustände machen – zum Mich der Wahrnehmung.

    Man hat es mit einer Zumutung im Modus des Seins zu tun: Etwas ist gesehen, wenn die subjektive Gewissheit gegeben ist, dass dieses Erlebnis vom Gesehenen verursacht ist und sein muss.

    Lambert Wiesing vergällt mit seiner kleinen Schrift uns Zeitgenossen den Spaß an den Mythen und Modellen, mit denen zu vergnügen wir uns lange schon angewöhnt haben. Man könnte sagen, dass der Philosoph die Religion der Gegenwart, nämlich den Konstruktivismus, bis auf die Grundfesten dekonstruiert. Dass die Welt eine Interpretationsleistung des Subjekts sei, ist eine Folge der Unterstellung, die Welt wäre nicht sichtbar, sondern lesbar. Aber die Welt ist eben kein Text: Wir sind hier nicht bei Suhrkamp. Vielmehr besteht sie aus Wahrnehmungen. Denn weil es meine Wahrnehmungen gibt, muss es denjenigen geben, der Subjekt für diese Wahrnehmungen ist: mich.

    Die Wahrnehmung von etwas ist genau dann gegeben, wenn der Wahrnehmende mit diesem Etwas seine Gegenwart teilt.

    Wahrnehmung heißt folglich: Ich bin Teil davon. Und das ist der eigentliche Clou in Wiesings neuem Werk: Die Erkenntnis, dass es ausgerechnet das Bild ist, welches den Wahrnehmenden von seiner Partizipationspflicht entlastet. Zwingt mich die Wahrnehmung zur Anteilnahme, erlöst mich das Bild von der Präsenzpflicht. Ich kann es betrachten, ohne Teil dessen zu werden, was ich betrachte.

    Wenn wir etwas sehen, ohne beim Gesehenen selbst dabei zu sein, dann und nur dann sehen wir ein Bild.

    Bilder verhelfen dem Menschen zu einer Pause, gewissermaßen zu einem Nickerchen im Wachzustand. Während mich nämlich die Wahrnehmung dazu nötigt, Teil des Wahrgenommenen zu werden, geschieht das im Fall der Wahrnehmung eines Bildobjektes, eines Motivs nicht. Ich sehe dann ein Bild, tauche in das Dargestellte ein – tauche aber nicht darin auf. Ich bin also – weg.

    Mit dieser inzwischen prominent gewordenen Wendung beschließt Lambert Wiesing folgerichtig seine Autopsie. Sie erklärt ganz nebenbei, warum so viele lieber den ganzen Tag vor einem bildgebenden Apparat wie dem Rechner sitzen, als mal den Fuß vor die Tür zu setzen. Einfach, weil man nicht schon bei der kleinsten Wahrnehmung unrettbar in die Wirklichkeit verstrickt sein will.

    Lambert Wiesing "Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie", Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2009, 228 Seiten, 17,80 Euro