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BGH-Richter Thomas Fischer
Das Strafrecht verständlich machen

In seinem Buch "Im Recht" gibt Thomas Fischer Einblicke in das deutsche Strafrecht. Der Vorsitzende Richter am BGH will vor allem Nicht-Juristen Sachkenntnis vermitteln und Fehlinformationen aus Krimiserien, Gerichts- und Talkshows entgegenwirken. Anschaulich geschrieben, pointiert formuliert.

Von Annette Wilmes | 30.05.2016
    Die Kommentare zu deutscher Strafprozessordnung (StPO) und deutschem Strafgesetzbuch (StGB) liegen auf einem Tisch.
    Richter Thomas Fischer nimmt das Strafrecht in seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen unter die Lupe. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Thomas Fischer schreibt vor allem über das Strafrecht - über die ganz großen Themen, über den Kampf gegen den Terror, über das Feindstrafrecht und über die Todesstrafe: "Warum der Staat seine Bürger nicht töten darf". Er befasst sich aber auch mit einzelnen Straftatbeständen, erläutert zum Beispiel den Unterschied zwischen Diebstahl und Raub. Er fischt im Recht und dabei ist ihm Paragraph 166 ins Netz geraten: "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen". Wenn die Tat "geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören", gibt es eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren. Früher, etwa vor 250 Jahren, drohten Folter und Tod für Gotteslästerung. Aber heute, findet Fischer, sollte Blasphemie kein Straftatbestand mehr sein, er plädiert dafür, den Paragraphen ersatzlos zu streichen.
    "Strafrechtler nennen es: 'Das Rechtsgut hat sich geändert'. Sagen wir: Die Aufklärung ist passiert. Der Mensch ist selbst groß geworden. Er hat den Kosmos erobert oder jedenfalls angefangen, sich das einzubilden. Er hat die höheren Mächte, die kosmischen Schachspieler, die Schicksalsgeister und Allesbeherrscher, mit all jener Höflichkeit und Freundlichkeit, deren er fähig ist, in kleinen Schritten an den Rand ihrer Existenz gedrängt und sich selbst ins Zentrum gerückt. Wer heute mit einem Theologen darüber streitet, ob der Mensch eine Erfindung Gottes oder Gott eine Erfindung des Menschen sei, wird in Europa nicht gekreuzigt, sondern freudig zur Podiumsdiskussion eingeladen."
    Fischers Motivation: das Bild des Rechts wieder gerade rücken
    Thomas Fischer hat eine ganz eigene Art, zu schreiben. Sein Ton wechselt zwischen Polemik, Provokation und Belehrung, mitunter wendet er sich direkt an seine "lieben Leserinnen und lieben Leser". Aber immer schreibt er anschaulich und pointiert.
    "Ich versuche, an einzelnen herausgehobenen Themen, Begriffen, Problemen das Strafrecht insgesamt in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen und etwas näher und etwas anders zu erläutern, als das gewöhnlich der Fall ist."
    Er will keinen Volkhochschulkurs à la "Jura leicht gemacht" abhalten. Er will vielmehr Sachkenntnis vermitteln und den Fehlinformationen aus Krimiserien, Gerichts- und Talkshows und aus skandalisierenden Schlagzeilen entgegenwirken. Er will das Bild des Rechts wieder gerade rücken.
    "Das ist eine Vorstellung, die mit einer Art Dackelblick immer von unten nach oben schaut und auf das Recht schaut wie auf die Macht und die Gewalt des Staates an und für sich. Ich meine, dass der Bürger erstens fähig ist und zweitens es auch verdient hat, das Recht als eigene Angelegenheit zu betrachten. Und auch seine Mitwirkung daran zu verstehen und die Zeitbedingtheit und die Politikbedingtheit und die Relativität von Recht, insbesondere von Strafrecht, zu verstehen."
    Für einen der höchsten Richter in dieser Republik schreibt Thomas Fischer ungewohnt offen und gedanklich erfrischend. Das gefällt nicht allen, vor allem von Kolleginnen und Kollegen kommt Kritik. Ein Richter in seiner Position sollte zurückhaltend sein:
    "Ich erwidere, dass ich diese Mahnung durchaus in einer gewissen Weise verstehen kann und auch ernst nehme. Andererseits aber auch nicht immer ganz verstehe, weil ich nicht weiß, welche Art von Zurückhaltung damit gemeint ist."
    Zum Beispiel sollte ein Richter nichts über eigene Fälle in der Öffentlichkeit sagen, auch nichts über konkrete Fälle von Kollegen oder anderen Gerichten. Zurückhaltung in diesem Sinne befürwortet auch Thomas Fischer. Aber:
    "Wenn damit gemeint wäre, dass Richter keine Meinung haben sollten, wäre das natürlich ein von vorneherein irrationaler Wunsch. Denn Richter sind ja Menschen wie alle anderen auch und haben zu den Dingen des Lebens genauso wie alle anderen richtige, falsche, mittelmäßige, schlechte oder gute Meinungen. Und wenn es andererseits bedeuten sollte, dass Richter ihre Meinung haben, aber nicht sagen sollen, finde ich das auf eine gewisse Weise etwas rätselhaft, weil mir nicht einleuchtet, dass sich die Rolle des Richters in unserer Gesellschaft gerade dadurch auszeichnen sollte, dass die Personen, die ja doch mit ihren Entscheidungen ganz zentral auch einwirken auf die Gesellschaft, auf die Wirklichkeit, dass diese Personen sich hinter einem Nebel von Unklarheit und Schweigen verbergen."
    Thomas Fischer nimmt das Strafrecht in seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen unter die Lupe, wie es funktioniert, wie es gebraucht und missbraucht wird. Auch der Blick in die Geschichte fehlt nicht. Die deutsche Justiz war auch nach Kriegsende noch lange bis zum Bundesgerichtshof durchsetzt von Nazis. Fischer erzählt die Geschichte des Ministerialdirigenten Eduard Dreher, der selbst in die Todesmaschinerie der NS-Justiz verwickelt war. Er wurde 1947 für entnazifiziert erklärt und machte in den 50er- und 60er-Jahren Karriere im Bundesministerium der Justiz. Dreher verschuldete schließlich 1968 eine "Panne" bei einer Gesetzesänderung, die dazu führte, dass alle Beihilfe-Taten von NS-Verbrechern verjährt waren.
    "Die Akten gegen die Sondereinsatzgruppen und Tausende von Mördern konnten in den Müll wandern."
    Eduard Dreher, unübertrefflicher Kenner der Strafrechtsdogmatik, hat die Panne natürlich sehr bedauert. Er konnte sich gar nicht erklären, wie so etwas passieren konnte. Die Akte über die entscheidende Sitzung – mit der Anwesenheitsliste der Beteiligten – ist tragischer Weise seither verschwunden."
    "Die Mitglieder der Justiz sind keine der Kritik enthobene Elite"
    Thomas Fischer kritisiert die Justiz und die Juristen, auch die Journalisten, Politiker und Rechtswissenschaftler bekommen ihr Fett weg. Besonders eindringlich ist seine Kritik am Gesetzgebungsverfahren zur Sterbehilfe und an der Juristenausbildung Aber bei all dem ist Thomas Fischer kein Nestbeschmutzer, wie ihm von manchen Kollegen vorgeworfen wird.
    "Das Ansehen der Justiz leidet gewiss nicht, wenn die Auseinandersetzung mit ihr zu kritischen Stellungnahmen führt. Denn wir sprechen ja über eine rechtsstaatliche Justiz in einer demokratischen Republik, in welcher der Täter so viel Würde hat wie das Opfer, der Dummkopf so viel wie der Alleswisser, der Richter so viel wie der Antragsteller. Die Mitglieder der Justiz sind keine der Kritik enthobene Elite. Es kommt darauf an, die Rolle des Rechts und die Verantwortung derjenigen zu verstehen, denen es, nach den Worten des Grundgesetzes, 'anvertraut' ist."
    Thomas Fischer: "Im Recht - Einlassungen von Deutschlands bekanntestem Strafrichter"
    Droemer Verlag, München 2016
    336 Seiten, 19,99 Euro
    ISBN: 978-3-426-27685-3