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Bhaktapur 2072
Zwischen Gott der Zerstörung und Göttin des Wohlergehens

Bhaktapur ist eine der drei Königsstädte des Kathmandutals in Nepal. Mitte April fand der Jahreswechsel von 2071 auf 2072 im von König Vikramaditya eingeführten Kalender statt. Das Fest dauerte eine Woche, wird mit Ritualen für die Schutzgötter und viel Musik in den Straßen gefeiert. Eine Woche später hat das Erdbeben große Teile der Stadt in Trümmer gelegt und etwa 250 Menschen getötet.

Von Barbara Kenneweg | 19.07.2015
    Bhaktapur, Mitte April. Es ist Bisket Jatra, der Jahreswechsel von 2071 auf 2072 im von König Vikramaditya eingeführten Kalender. Eine Woche lang werden Rituale für die Schutzgötter der Stadt gefeiert, in allen Straßen ist Musik. Vor allem geht es darum, Bhairav, eine negative Erscheinungsform von Shiva, zu besänftigen. Der Hinduismus ist kompliziert, sogar die Götter haben mindestens zwei Gesichter - Bhairav etwa 64. In allen seinen Ausformungen aber ist er der Herr der Zerstörung.
    Dieses Jahr scheint es, nicht gelungen zu sein, Bhairav gnädig zu stimmen. Eine Woche nach Abschluss von Bisket Jatra verwandelte das Erdbeben große Teile der Stadt, Wohnhäuser wie Tempel, in Schutthaufen. Etwa 250 Menschen starben in den Trümmern.
    "Rolle der Musik ist ein Opfer, das man den Göttern bringt"
    Durch die Straßen Bhaktapurs ziehen Trommler, in Gassen, auf Plätzen, vor Tempeln sitzen Gruppen, alles ist voller Musik.
    "Rolle der Musik ist ein Opfer, das man den Göttern bringt. Man kommuniziert auch bis zu einem gewissen Grad mit dem Gott, in dem Sinne, dass man ihn direkt anspricht mit einer Komposition. Es gibt Kompositionsformen, die eine direkte Verbindung zur jeweiligen Gottheit herstellen. Das andere ist eher ein Aspekt von einem religiösen Konzept, wo die Musik die Funktion hat, eine göttliche Kraft oder Endergie aufzuladen oder in Gang zu setzen - und diese Energie ist das, was die Stadt zusammenhält."
    Wie es klingt ist im Vergleich zu Verbindung mit den Göttern zweitrangig. Beim Singen zum Beispiel kommt es auf die Inbrunst an, nicht auf die Tonlage. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass zwei Gruppen gleichzeitig musizierenderweise ihr Ritual vor ein und demselben Tempel begehen.
    Seit Stunden versammeln sich Menschen auf dem nah am Fluss gelegenen Yoshin Khel, einem der größten Plätze der Stadt. Das Gedränge wird, obwohl man es sich nicht vorstellen kann, immer noch dichter. Auch auf den Häusern stehen Menschen, auf Balkonen und Terrassen, auf Dächern und noch so kleinen Vorsprüngen. Heute Abend wird der Yoshin-Pfosten aufgestellt. Dutzende junger Männer ziehen einen 20 oder 30 Meter hohen Baumstamm an langen Tauen in die Aufrechte.
    "In dem Moment, wo die Leute es schaffen, den Baum aufzustellen, beginnt das neue Jahr. In dem Festwagen sitzt der Gott Bhairava, der grüßt sozusagen den Baumstamm, zusammen mit der Göttin Bhadrakali. Wir warten auf den Festwagen, damit die beiden Gottheiten hier anwesend sein können. Und sobald der Baum aufrecht steht und das neue Jahr begonnen hat, wird der Gott transferiert in den Pavillon, den wir da sehen."
    Der Yoshin-Pfosten erinnert an einen Prinzen, dem es gelang, im Kampf gegen zwei böse Schlangen eine Prinzessin zu gewinnen. Im Prinzip geht es um ein Symbol der Verschmelzung des als männlich betrachteten Himmels mit der weiblichen Erde. Diese wiederum werden dargestellt als Bhairav und Bhadrakali. Bei beiden handelt es sich um Götter der Zerstörung. Eine Woche lang strömen die Menschen zu den Heiligtümern, um sie mit Blutopfern freundlich zu stimmen.
    Der Gott der Musik, Nasadyah, spielt in Bhaktapur eine große Rolle. Möglicherweise geht er auf prähinduistische Traditionen zurück und war einst der Hauptgott Bhaktapurs - Musik als Religion. In der ganzen Stadt sind in Häusern und Mauern kleine Fluglöcher für Nasadyah eingebaut, damit er sich frei bewegen kann.
    "Sobald man unterrichtet wird, lernt man, dass der Musikgott Nasadya auf dem oberen Trommelfell lebt. Die untere Hälfte, das ist jetzt so eine Fasstrommel, klingt ein bisschen tiefer, und da wohnt der Gott des Fehlers in der Musik, Haimadya drin. Und die beiden sind in Bhaktapur als Energiestrom realisiert, die fliegen sozusagen durch Flugschneisen in den Häusern. Und eben auch aus den Trommeln raus, das heißt die gute Endergie, die des Nasadya, sollte immer nach oben zeigen, und die untere natürlich ein bisschen gedämpft werden. Das ist irgendwie einleuchtend, in dem Moment wo man es weiß, vergisst man es nicht mehr. Ich hab danach nie mehr eine Trommel auf die falsche Seite gestellt."
    Fabian Bakels landete zunächst als Student in Bhaktapur, am Music Department der University of Kathmandu. Inzwischen lehrt er dort Musikethnologie und schreibt seine Doktorarbeit. Auch die Trommeln Bhaktapurs hat er zu spielen gelernt. Nicht selten zieht er mit einheimischen Trommlern durch die Straßen und nimmt an deren Ritualen teil.
    "Die waren immer unglaublich befürwortend. Man hat Leute die einem auf die Schulter klopfen und lachen und sagen: toll, super. Es hat nie jemand gesagt: Warum machst du das eigentlich, du gehörst doch keiner Kaste an, du wohnst doch gar nicht in Bhaktapur. Als Musiker hab ich nur positives Feedback bekommen. Vielleicht liegt es daran, dass die Leute hier ihre Musik sehr mögen. Und dass es Leute mit Stolz erfüllt, wenn sie sehen, dass es anderen so viel Spaß macht, dass sie Jahre hier verbringen, um die Musik zu lernen."
    Kompliziertestes Kastensysteme
    Das kleine Bhaktapur hat eines der kompliziertesten Kastensysteme der Welt. Grob gesagt wird nach Berufsgruppe unterschieden: Schnitzer, Schmiede, Ölpresser, Metzger, verschiedene Bauern. Noch immer leben diese Gruppen in klar abgegrenzten Vierteln. Wer als hoch- und wer als niedrigkastig gilt, ist für Außenstehende nicht immer nachvollziehbar. So steht beispielsweise der Schneider mit seinem wichtigen und von allen benötigten Beruf so weit unten in der Hierarchie, dass es ihm nicht erlaubt ist, mit höherstehenden Mitmenschen auf einer Matte zu sitzen. Offiziell ist das Kastensystem in Nepal aufgehoben, aber die Wertungen ändern sich nur langsam.
    Am nächsten Tag steht der große Holzwagen, in dem Bhairav durch die schmalen Gassen gezogen wird, unten auf dem Yoshin Khel. Seit Stunden ist ein Mann auf dem Gefährt damit beschäftigt, Hühner entgegenzunehmen. Er schneidet ihnen den Kopf ab und lässt das Blut direkt auf den Munde der Götterstatue fließen, danach nehmen die Leute ihr kopflos mit den Flügeln schlagendes Huhn wieder in Empfang - ein Festtagsessen für die Familie.
    Männer sitzen mit ihren Instrumenten auf dem Boden, um sie herum Blumen, Reis, Pigment und Körbe mit abgetrennten Ziegenköpfen. Die Körper der Tiere haben die Frauen mit nach Hause genommen. Sie werden fein säuberlich in ihre Einzelteile zerlegt, alles ist auf die eine oder andere Weise essbar, Fleisch ist wertvoll.
    Bhaktapur ist eine der drei Königsstädte im Kathmandutal. Jahrhunderte lang konkurrierten Kathmandu, Patan und Bhaktapur miteinander. Mit Chandra, einem jungen Architekten aus der Stadt, schauen wir uns am Durbar Square, dem Palastplatz um. Der König von Bhaktapur residierte einst hier.
    "Seht Ihr diese große Steinsäule? Darauf befindet sich die Statue des Königs. In Patan gab es auch eine solche Säule, sie war noch höher als die hier. Da kam jeden Tag ein Mann zu der Säule und klopfte daran. Der König von Patan wunderte sich und schickte nach dem Mann, um ihn nach dem Grund zu fragen. Der Mann antwortete: 'Es tut mir sehr leid, aber mit der Säule stimmt was nicht, da ist etwas innerlich geborsten. Wenn wir sie nicht kürzen, wird sie brechen, und die Königsstatue wird herunterfallen.' Das wollte der König von Patan nicht, so ließ er von der Säule ein Stück abschneiden. Aber dabei kam heraus, dass der Stein völlig in Ordnung war. Der Mann war nämlich ein Spion aus Bhaktapur gewesen. Er sollte dafür sorgen, dass die Säule in Patan kleiner wird als die in Bhaktapur."
    Besonders schön an der hiesigen Architektur sind die kunstvollen Holzschnitzereien. Viele Wohnhäuser haben reich verzierte Fenster. Am größten ist die Pracht aber an den Gotteshäusern, hier sind nicht nur Muster und Blumen, sondern ganze Götterepen zu bewundern.
    "Diese zwei Statuen da vorne vor dem Palast, jetzt Museum, sind besonders schön gearbeitet. Der König von Bhaktapur freute sich über die Proportionen und den Ausdruck - so sehr, dass er dem Künstler die Hände abhacken ließ, damit er in keiner der anderen Städte mehr etwas vergleichbares schaffen konnte. Der Skulpteur war sehr traurig und wütend und wollte sich rächen. Er ging nach Patan und machte eine noch viel schönere Statue - mit den Füßen."
    Chandra ist Akademiker, ein Vertreter der Mittelschicht. Dennoch ist er tief in den Traditionen Bhaktapurs verwurzelt. Er gehört der Kaste der Töpfer an, und wenn es seine Gefühle irgendwie erlauben, möchte er den alten Bräuchen gemäß nur eine Frau aus derselben Kaste heiraten.
    "Alle Töpfer sind irgendwie miteinander verwandt. Und obwohl ich mir gut vorstellen kann, für die Arbeit ins Ausland zu gehen, werde ich letztlich doch ganz sicher hier wohnen. Meine ganze Familie ist so, Brüder, Cousins, wir bewegen uns nicht aus der Stadt fort. Am liebsten sind wir wirklich in der Innenstadt, innerhalb der alten Grenzen. Manche Leute ziehen fort in die Hügel, weil es hier so eng ist, aber wir wollen das nicht."
    Konkurrenz zwischen Ober- und Unterstadt
    Bhaktapur teilt sich in eine Ober- und eine Unterstadt, die in Konkurrenz miteinander liegen. Noch 2006 gab es bei den Bisket-Jatra-Feiern Tote, als junge Männer sich eine Ziegelschlacht lieferten. Ein großes Polizeiaufgebot schützt nun die Feier vor derartigen Ausschreitungen. Vom Durbar Square der Oberstadt laufen wir die Hauptstraße - die alte Handelsroute nach Tibet - weiter zum Taumadhi Tol, wo die Unterstadt beginnt.
    "Dieser Platz hier ist neutral. Deswegen beginnt alles hier. Am ersten Tag von Bisket Jatra wird hier Bhairavs Wagen zusammengesetzt, und dann versuchen die Leute der Ober- und Unterstadt in einem großen Tauziehen, den Wagen auf ihre Seite zu bekommen. Das ist hier sozialer Treffpunkt und auch Marktplatz. Seht Ihr hier den fünfstöckigen Tempel? Alle lieben ihn, er ist eine architektonische Meisterleistung."
    Der Nyatapola Tempel ist der höchste der Stadt. Luftig und elegant streckt er sich dem Himmel entgegen. Auf seinen Stufen trifft Alt und Jung sich zum Plausch, ruht sich aus, guckt und lässt sich begucken - oder hält Mittagsschlaf.
    "Der Tempel gegenüber ist der von Bhairav, dem Gott der Zerstörung. Zur Zeit der Malla-Könige wollten die tantrischen Minister etwas tun, um seine Gewalt zu zügeln. Deswegen bauten sie einen Tempel für Siddha Lakshmi, die Göttin des Wohlergehens. Ihr Tempel ist der Nyatapola, und er ist höher als der von Bhairav, damit sie ihn kontrollieren kann. Die Treppe ist gesäumt von Wächtern. Jedes Paar ist zehnmal stärker als das darunter. Ganz unter sind die Ringer, sie sind zehnmal stärker als normale Männer. Darüber sind die Elefanten, zehnmal stärker als die Ringer, darüber Löwen, wieder zehnmal stärker, darüber Greife, darüber Göttinnen mit vielen Armen. Die Gottheit im Tempel drin, schließlich, ist zehnmal stärker als diese Göttinnen. In dem großen Erdbeben vor ungefähr 100 Jahren – wir haben hier alle hundert Jahre ein großes Beben - lag Bhaktapur in Schutt und Asche, nur der Nyatapola stand noch. So gut und fest ist er gebaut."
    In den 80er-Jahren wurde der Nyatapola nach einem kleineren Erdbeben restauriert. Chandra war noch ein Kind. Er erinnert sich, wie alle mit anpackten, und jedes Viertel, jede Kaste eine andere Aufgabe übernahm.
    "Ich erinnere mich ganz genau. Die Spitze, die Ihr da ganz oben seht, lag hier unten auf diesem Podest. Ich ging hin und musste feststellen, dass diese Spitze, die vielleicht vier Fuß hoch ist, größer war als ich. Das ist mit im Gedächtnis geblieben!"
    Am Abend muss Bhairav in seinem großen Holzwagen wieder nach oben, Richtung Taumadhi Tol gezogen werden und dort rituell mit dem kleineren Wagen der Bhadrakali zusammenstoßen. Die Stimmung ist aufgeheizt, seit Stunden warten die Menschen auf dem Platz. Wann der göttliche Zusammenstoß stattfindet, ist unvorhersehbar. Manchmal bleiben die Wagen stecken, auch schwere Unfälle kommen vor, wenn sie umfallen oder Leute überrollen. Die Gefahr gehört unweigerlich zum Ritual dazu. Schließlich ist vorn am Gefährt des Bhairav wie eine Gallionsfigur ein weiterer Gott angebracht: der Gott des Chaos.
    Bisket Jatra neigt sich dem Ende zu. Danach kehrt wieder Ruhe ein in das Städtchen Bhaktapur - 2015 jedoch nur für eine Woche. Das große Erdbeben vom 25. April ließ den von allen geliebten Nyatapola Tempel unversehrt. In dieser Teilhinsicht hat Siddha Lakshmi, die Göttin des Wohlergehens, über den Gott der Zerstörung gesiegt.