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Biafra
Der neue Ruf nach Unabhängigkeit

Der Kampf um einen unabhängigen Staat namens Biafra tobte von 1967 bis 1970 in Nigeria. Er kostete mindestens eine Million Menschen das Leben. Während das Kriegstrauma noch immer nicht aufgearbeitet ist, werden wieder Rufe nach einem unabhängigen Biafra laut.

Von Alexander Göbel | 21.07.2017
    Nigerianer des Stammes der Igbo bei der Beerdigung des ehemaligen Staatschefs Südafrikas Nelson Mandela am 9.12.2013 in Mandelas Heimat in Qunu.|
    Nigerianer des Stammes der Igbo bei der Beerdigung des ehemaligen Staatschefs Südafrikas Nelson Mandela am 9.12.2013. (EPA/dpa/Ian Langsdon)
    1968. Oberst Chukwuemeka Ojukwu beschwört seine Rebellen. Spricht mit bebender Stimme von großen Erfolgen im Kampf gegen die Invasoren, die Unterdrücker. Es gelte nun, durchzuhalten, weiter zu marschieren, der Sieg sei in Sicht; der Sieg gegen die Regierung von Nigeria.
    Nigeria: ethnischer Flickenteppich
    Ein Jahr zuvor hatte Oberst Ojukwu die Republik Biafra ausgerufen, im Südosten Nigerias. Hier sah die Volksgruppe der Igbo ihre traditionelle Heimat. Die Igbo waren Mitte der sechziger Jahre von Pogromen verfolgt worden, schließlich wurden sie auch noch vom Ölreichtum des Landes abgeschnitten. Nun sollte ihr Biafra endlich unabhängig sein - vom Rest dieses ethnischen Flickenteppichs namens Nigeria.
    Bis zu vier Millionen Opfern
    Fast drei Jahre braucht Nigerias Armee, um den Aufstand niederzuschlagen. Biafra kapituliert - nach einer humanitären Katastrophe. Die Schätzungen der Opferzahlen reichen von einer Million bis zu vier Millionen. Ben Okafor, damals 12 Jahre alt und eine Zeitlang Kindersoldat in den Reihen der Aufständischen von Biafra, klagt an: Die nigerianische Armee habe Biafra ausgehungert.
    Ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem ein ausgehungertes afrikanisches Kleinkind zu sehen ist. Es sitzt auf einem Mauerstück und ist bis auf die Knochen abgemagert. Das Foto stammt von 1967, es wurde im damaligen Staat Biafra im Südosten Nigerias aufgenommen.
    Die Hungerstrategie Nigerias gegen Biafra forderte mehr als eine Million Todesopfer, darunter zahlreiche Kinder. (imago stock&people)
    Auf der Flucht vor den nigerianischen Truppen hätten sich die Menschen eine Weile von Schlangen und Blättern ernährt, berichtet Okafor. In den Flüchtlingslagern, in denen er nach Kriegsende arbeitet, sieht er Hunderte Biafra-Kinder. Dünne Beinchen tragen die ausgemergelten Körper, die Haut spannt sich über die Rippen und die aufgedunsenen Bäuche. Bilder, die um die Welt gegangen sind, und die Ben Okafor noch heute jeden Tag quälen, 50 Jahre danach.
    "Jeden Tag sieht man die verhungernden Kinder im Flüchtlingslager und man weiß: Sie werden nicht überlebeben… (bricht in Tränen aus)."
    Biafra - Tabu im Schulunterricht
    Lange war das Wort "Biafra" in der nigerianischen Öffentlichkeit verboten. Bis heute hat Nigeria das Trauma nicht verarbeitet, noch immer gibt es keine offizielle Erinnerung an den Krieg, im Schulunterricht bleibt Biafra ein Tabu. "No victor, no vanquished", war die Parole der Regierung, "Keine Sieger, keine Verlierer". Doch in Wahrheit fühlen sich die Igbo noch immer bestraft für die versuchte Sezession. Kein Wunder, sagt Pastor Kennedy Onjewoke aus Enugu. Es fließe deutlich weniger staatliches Geld in den Südosten als in andere Regionen, die Infrastruktur sei miserabel, die Igbo würden bei Jobs benachteiligt - besonders im Öffentlichen Dienst.
    "Wir fühlen uns wie Abgeschobene im eigenen Land. Wir sind keine Nigerianer. Wir gehören zu Biafra. Hier liegen unsere Wurzeln. Und das sagen wir jedem, der uns fragt!"
    Durch das jahrzehntelange Schweigen hat sich der Mythos Biafra bewahrt. Und der kommt wütenden Männern wie Nnamdi Kanu zugute. Kanu ist Chef der "Indigenous People of Biafra", einer der Organisationen, die wieder in die Schlacht ziehen wollen – für ein unabhängiges Biafra. Nnamdi Kanu will diesen neuen Aufstand anführen.
    "Unser Land wurde uns von einer fremden Macht aus den Händen gerissen. Es ist meine Aufgabe, es im Kampf zurückzugewinnen. Wir sind die einzigen, die Euch aus der Armut befreien werden, aus Euren vergifteten Gedanken. Nur wir werden Euch Krankenhäuser bauen, Straßen, die den Namen verdienen, wir werden Euch Arbeit geben."
    Selbstgefällige Zentralregierung
    Noch stehen nicht alle Igbos hinter Kanu – doch Kole Shettima vom Zentrum für Demokratie und Entwicklung in Abuja beruhigt das nicht. Er weiß: Der Igbo-Separatist Kanu legt zu Recht den Finger in die Wunde. Das reiche Nigeria muss Benzin importieren, obwohl es Raffinerien gibt; im Norden wüten nach wie vor die islamistischen Terroristen von Boko Haram; Zehntausende junger Leute, besonders im Südosten, sind arbeitslos – trotz guter Schul- und Uni-Abschlüsse. All das, so Shettima, seien Zeichen für staatliches Versagen einer selbstgefälligen Zentralregierung mit einem schwerkranken und abwesenden Präsidenten Buhari. Dem übrigens auch noch nachgesagt wird, er hasse die Igbos.
    "Wir kommen an einen Abgrund, dann geht’s irgendwie weiter, nur um bald wieder am Rand einer Katastrophe zu stehen – das ist Nigeria! Dieses ständige Hin und Her führt zu einer großen Unsicherheit – was die Wirtschaft betrifft, das politische System, die Gesellschaft. Wir sind immer wieder gezwungen, Feuerwehr zu spielen – um Brände aller Art zu löschen."
    Dass Nnamdi Kanu nun diese Brände weiter anfacht und man ihn auch noch gewähren lässt - ein Unding für Godfrey Gaya, Parlamentarier aus dem Norden Nigerias. Er sagt: Kanu dürfe kein Held werden, sondern gehöre wieder hinter Gitter, wo er schon mal war – nach einer Anklage wegen Hochverrats.
    Warnende Stimmen verstummen
    "Nigeria hat schon einmal einen Bürgerkrieg überstanden. Aber einen zweiten würde dieses Land nicht überleben. Wer jetzt nach Unabhängigkeit schreit, tut das aus reiner Selbstsucht und hat keine Ahnung, was ein Krieg bedeuten würde. Nigeria muss ein Staat bleiben, wir brauchen einander, wir müssen miteinander auskommen."
    Noch gibt es warnende Stimmen wie Francis Njoku. Erstaunlich klar sagt der alte, schwer gezeichnete Biafra-Veteran, dass es ohne das Öl aus dem Nigerdelta – und damit ohne die Unterstützung anderer Volksgruppen Nigerias – niemals ein unabhängiges Biafra geben werde. Und überhaupt: Ein solch unvorstellbares Gemetzel wie damals könne doch niemand ernsthaft wollen.
    "Veteran Francis Njoku freistehend: "Wir wollen dieses Blutvergießen nicht mehr!"
    Doch die Zeugen von damals sterben, die Warnungen verstummen. Rund um den 50. Biafra-Jahrestag wurden bereits Hunderte Igbo aus dem Norden Nigerias vertrieben, mehr als 150 Biafra-Sympathisanten soll die Polizei bei Straßenprotesten erschossen haben. Sie seien Märtyrer der Sache, so der Separatistenführer Nnamdi Kanu. Und wenn es sein müsse, werde auch er einer sein.
    "Es geht nicht mehr darum, ob Biafra Wirklichkeit wird, sondern höchstens, wann. Nichts und niemand wird Biafra aufhalten. Es gibt kein Zurück, wir haben den Rubikon überschritten. Egal, was passiert. Ob ich lebe oder tot bin. Wenn ich tot bin, umso besser, dann wird Biafra schneller kommen."