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Bibelforschung
"Die Bibel gehört allen, Gläubigen und Ungläubigen"

Der Deutsch-Schweizer Thomas Römer ist neuer Leiter des renommierten Wissenschaftsinstituts Collège de France in Paris. In einem Land, das auf die Trennung von Staat und Religion Wert legt, ist die Wahl eines Theologen und Bibelwissenschaftlers etwas Besonderes.

Von Bettina Kaps | 19.11.2019
Thomas Römer, neuer Leiter des ehrwürdigen Collège de France
Sieht die Bibel in ihrem geografischen, historischen und soziologischen Kontext: Thomas Römer (Deutschlandfunk / Kaps)
Sein Look ist klassisch: Grauer Anzug, dezente Krawatte, am Knopfloch leuchtet das rote Band der französischen Ehrenlegion. Nur der kaum sichtbare, millimeterkurz gestutzte Bart deutet an, dass Thomas Römer persönliche Akzente setzt. Das gelingt ihm auch im "Collège de France".
Römer wurde vor 63 Jahren in Mannheim geboren. Er studierte evangelische Theologie und semitische Sprachen in Heidelberg und Tübingen. Als erster Ausländer wurde der Bibelforscher jetzt von seinen Kollegen zum Leiter der altehrwürdigen Pariser Hochschule gewählt und vom Staatspräsidenten ernannt.
Freie Hand für Professorinnen und Professoren
Thomas Römer unterrichtet schon seit 2007 am Collège de France. Bevor er sein Lehramt in Paris damals antrat, untersuchte der Wissenschaftler, was seine Vorgänger seit Gründung der Hochschule im Jahr 1530 so unterrichtet hatten.
"Es gab immer schon mal Lehrstühle, die mit der Bibel zusammen hingen, aber die wurden nie als biblische Lehrstühle tituliert. Das hieß dann Hebräisch oder Althebräisch oder der Vordere Orient. Also, man konnte Bibel machen, aber es war nie deutlich im Titel, dass der Lehrstuhl auf die Bibel konzentriert war."
Das Collège de France lässt seinen Professorinnen und Professoren völlig freie Hand. Sie können ihren jeweiligen Lehrstuhl selbst gestalten. Das fängt bei der Bezeichnung an. Römer nannte sein Fach "milieux blibliques", auf Deutsch etwa: "Die Bibel und ihre Umwelt". Genau wissend, dass er damit einen heiklen Punkt berührte: Seit der strikten Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905 sind Altes und Neues Testament an allen staatlichen Institutionen in Frankreich, abgesehen vom Elsass, weitgehend tabu. Er löste daher zunächst einiges Befremden aus.
"Einige Kollegen haben – gutmeinend - gesagt: Muss da 'biblique' wirklich rein? Kann das nicht ein Nachteil sein? Da habe ich gedacht: Nein, verstecken was man macht, ist auch nicht die Lösung."
Bibel-Kontexte
Wenn im Collège de France ein Lehrstuhl frei wird, beschließt das Professoren-Kollegium, welches Wissensgebiet die Nachfolgerin oder der Nachfolger haben soll. Ein Naturwissenschaftler kann durchaus auf einen Geisteswissenschaftler folgen und umgekehrt. Wurde ein neuer Forscher vorausgewählt, so muss er noch in einer Wahl bestätigt werden. Auch Römer stellt sich vor der Abstimmung reihum vor. Dabei erklärte er über 50 Kollegen der unterschiedlichsten Disziplinen, welche Art von Bibelforschung er betreibt.
"Die Idee ist, zu zeigen, dass man die Bibel nicht allein aus sich heraus verstehen kann, sondern dass man auf die Kontexte sehen muss, die geografischen, geschichtlichen, soziologischen Kontexte. Man muss sich auch mit dem alten Orient beschäftigen, etwa mit Griechenland, mit der Levante, zeigen, dass die Bibel Teil eines Größeren ist und dass man auch die Literatur, Bräuche und religiösen und politischen Überzeugungen der Nachbarn mit einbauen muss, um den biblischen Text richtig zu verstehen."
Um so tief wie möglich in den historischen Kontext einzutauchen, hat Römer die alten Sprachen gelernt: Neben Latein, Alt-Griechisch und Alt-Hebräisch beherrscht Römer Aramäisch, Ugaritisch und Alt-Syrisch. Seine Vorlesungen in Paris hält er in fließendem Französisch.
Über Identität klar werden
Den französischen Empfindlichkeiten in Sachen Religion ist der Theologe schon zu Beginn seiner Karriere begegnet. Nach abgeschlossenem Studium brachte ihn in den 1980er Jahren ein Forschungsstipendium der evangelischen Kirche nach Paris.
"Was interessant war: Dass man einen Protestantismus kennen lernt, der eine totale Minderheit ist. In Deutschland muss man sich nie rechtfertigen. Hier in Frankreich: Viele wissen nicht, was es ist, denken, es ist eine Sekte, man muss sich über seine Identität klar werden."
In Paris habe er damals schon den Mann getroffen, mit dem er bis heute zusammen lebe, erzählt Römer. Später arbeitete er als Studentenseelsorger im ostfranzösischen Nancy. Dabei wurde ihm klar, dass er, wie er sagt, ein ewig Zweifelnder ist und sich deshalb nicht für den Pfarrerberuf eignet. Seine Forschungen führten ihn in die Schweiz: Römer wurde in Genf promoviert, 1993 erhielt er einen Lehrstuhl für Hebräische Bibel in Lausanne.
Die Vorlesungen am College de France sind im Internet abrufbar, die analoge Version im Hörsaal steht zudem jedem offen. Der Radiosender France Culture strahlt jeden Tag in der Woche um fünf Uhr früh eine der Vorlesungen aus.
Sklaverei, Polygamie, Todesstrafe
Thomas Römer steht ab Februar wieder im Programm. Dann will er seinen Hörern alte und brandneue Hypothesen zur Entstehung der Bibel präsentieren. Ganz nach der Devise des Collège de France: "Das Wissen in seiner Entstehung zu lehren". Der Alttestamentler legt die Bibel also nicht religiös aus.
"Die Bibel ist eins der großen Werke der Menschheit, insofern gehört sie allen, Gläubigen und Ungläubigen. Sie hat natürlich auch einen besonderen Status, wie der Koran, dadurch dass sie im Judentum und Christentum als ein grundlegendes Dokument angesehen wird, im dem Leitlinien da sind für ein Leben vor Gott oder einem höheren Wesen. Diese Leitlinien finde ich aber nicht so einfach."
Gerade als religiöses Buch müsse die Bibel aber unbedingt in ihrem ursprünglichen Kontext verstanden werden, sagt Thomas Römer. Ihm ist ganz wichtig,
"dass man auch gläubigen Personen zeigt, dass die Vorschriften oder Gesetze der Bibel oder des Korans - ist genau dasselbe Problem - , dass man die nicht einfach so vom Ersten Jahrtausend vor Christus so auf unsere Zeit übertragen kann. Sonst müsste man Sklaverei, Polygamie, Todesstrafe wieder einführen, das wird im Alten wie im Neuen Testament vorausgesetzt."
Also im Alten und Neuen Testament. Thomas Römer berichtet, dass es am Collège de France auch einen Lehrstuhl für die Anfänge des Korans gibt.
"Da bin ich auch etwas stolz, ich habe da sehr dafür gekämpft, dass wir einen solchen Lehrstuhl haben."
Verantwortlich mit Bibeltexten umgehen
Die Professur konzentriere sich auf die textkritische Untersuchung der verschiedenen Manuskripte im Koran, zeige die vielen Ähnlichkeiten zur Bibel auf.
"Ich bin der Meinung, man müsste weiter gehen, auch wenn das im jetzigen gesellschaftspolitischen Kontext schwierig ist. Aber der Koran muss genauso analysiert werden wie die Bibel. Und es gibt ja jetzt Ansätze, das zu machen, ohne jemanden verletzen zu wollen. Die Leute haben Angst, man wollte ihnen den Glauben wegnehmen, aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, verantwortlich mit unseren Texten umzugehen und sie nicht irgendwelchen Leuten zu überlassen, die sagen: Der Koran sagt das oder die Bibel sagt das. Und wenn man genauer hin guckt, ist es nicht so einfach."
Römer begnügt sich nicht mit überlieferten Texten. Er nimmt auch an Ausgrabungen teil. Gemeinsam mit einem Archäologen der Universität Tel Aviv sucht er in Kirjat-Jearim, unweit von Jerusalem, nach Spuren der Bundeslade. Der Bibel zufolge enthielt sie Moses Steintafeln mit den Zehn Geboten und wurde auf dem Weg nach Jerusalem in Kirjiat-Jearim deponiert.
In diesem Semester hält Thomas Römer ein letztes Mal Vorlesungen in Lausanne, an der theologischen und religionswissenschaftlichen Universität, danach gibt er diese Professur auf. Wie in allen Jahren zuvor, will er die Studienanfänger fragen, wer von ihnen die Bibel gelesen hat.
"Vor 20 Jahren war das die große Mehrheit, jetzt ist es eine verschwindende Minderheit. Das ist ein Problem, dass man von der Bibel immer weniger Ahnung hat und das heißt dann auch, dass die Leute alles mögliche erzählen können über die Bibel. Sie hat so viel die westliche Welt beeinflusst. Manche Leute sagen sogar, die Menschenrechte sind eigentlich eine Konsequenz aus der Bibel, aus der Idee, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist. So etwas kann man nicht einfach weglassen."