Donnerstag, 28. März 2024

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Bibliotheca Arabica
"Auch in Deutschland und in Europa von Relevanz"

Die arabische Literatur ist hierzulande eher etwas für Spezialisten. Das könnte sich bald ändern. Wissenschaftler aus Leipzig erstellen aktuell eine Online-Datenbank für arabische Literatur des 12. bis 19. Jahrhunderts. Was die Forscher damit bezwecken, erläuterte Projektleiterin Verena Klemm im Dlf.

Verena Klemm im Gespräch mit Änne Seidel | 06.02.2018
    Koran und Gebetskette
    Forscher aus Leipzig arbeiten derzeit an einer Online-Datenbank zu arabischer Literatur (dpa / picture alliance / Roos Koole)
    Änne Seidel: Ein einziger Name findet sich in der langen Liste der Literaturnobelpreisträger, nur ein einziger Name eines arabischen Schriftstellers – und zwar der des Ägypters Nagib Mahfus, er gewann den Nobelpreis im Jahr 1988.
    Dass Machfus in der Nobelpreis-Liste ein so einsames Dasein fristet, das mag auch daran liegen, dass die arabische Literatur im Westen immer noch recht unbekannt ist, nur eine kleine Lobby hat, es fehlt zum Beispiel an Übersetzungen – und das gilt nicht nur für die Gegenwartsliteratur, sondern auch für die arabische Literaturgeschichte.
    Vielleicht könnte ein neues, groß angelegtes Forschungsprojekt dazu beitragen, dass sich das in Zukunft ändert. Wissenschaftler aus Leipzig erstellen seit einigen Wochen die sogenannte Bibliotheca Arabica – eine Online-Datenbank für die arabische Literatur des 12. bis 19. Jahrhunderts.
    Das Ganze ist ein Projekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Leipzig und wird geleitet von Verena Klemm, Professorin für Arabistik und Islamwissenschaft.
    Mit ihr habe ich vorhin gesprochen und ihr erst mal geschildert, was bei dem so schön klingenden Namen "Bibliotheca Arabica" vor meinem inneren Augen auftaucht: nämlich lange Regalreihen mit handgeschriebenen, leicht vergilbten und verstaubten Manuskripten … Geht es Ihnen, Frau Klemm, also in erster Linie darum, solche historischen Texte zu digitalisieren und online zu stellen?
    Verena Klemm: Es geht uns nicht darum, diese Texte zu digitalisieren und online zu stellen. Wir wollen eine Literaturgeschichte in einem sozialen und politischen Kontext schreiben. Uns interessieren vor allem Daten, Daten von Menschen, die über bestimmte Thematiken geschrieben haben, Leser, die bestimmte Werke genutzt haben, Besitzer, die sie vor Ort in Bibliotheken gesammelt haben, oder Gelehrte, die sie kommentiert und über Zeiten und Räume hinweg überliefert haben. Wir wollen eine Literaturgeschichte in einem sozialen und politischen Kontext schreiben von einer literarischen Kultur, die ein ausgesprochen üppiges literarisches Erbe auch hat.
    Seidel: Es geht, wenn ich Sie richtig verstehe, Frau Klemm, vielmehr darum, die Biografien, nenne ich sie jetzt einfach mal, die Lebensgeschichten dieser alten Handschriften zu erforschen?
    Klemm: Genau. Die Lebensgeschichten und ganz eng verbunden natürlich mit den Geschichten der Menschen, die diese Handschriften produziert, besessen, gesammelt und weiter überliefert haben. Genau diese Daten interessieren uns, und wenn wir diese Daten haben, dann haben wir Grundelemente, ganz wichtige, die dazu nötig sind, eine Literaturgeschichte in einem nahezu unbekannten Zeitraum zu schaffen.
    Erhöhte Lesefähigkeit ab dem 11. Jahrhundert
    Seidel: Haben Sie da vielleicht noch ein konkretes Beispiel? Welche Art von Geschichten können Sie aus diesen Daten ableiten? Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse erhoffen Sie sich am Ende?
    Klemm: Wir können zum Beispiel erkennen, dass ab dem 11. Jahrhundert bereits eine Ausbreitung von schulischer Bildung zu beobachten ist. Das heißt, dass damit eine Erhöhung der Lesefähigkeit und auch der kulturellen Beteiligung von Gruppen, die jetzt nicht der Gelehrtenschicht angehören, nachweisbar ist. Die Produktion von Literatur nimmt zu und so finden wir oder wir begegnen Handwerkern, die dichten, oder Gelehrten, denen es wichtig ist, sich nicht etwa nur mit Recht und Religion zu beschäftigen, sondern auch zum Beispiel die Memoiren ihres individuellen Lebens in ihrer eigenen persönlichen Erfahrungswelt aufzuschreiben.
    Insgesamt haben wir viele Hinweise darauf, dass es eine ausgesprochen lebhafte und lebendige Zeit ist, obwohl sie bislang von der Forschung so vernachlässigt wurde.
    Seidel: Diese Zeit wurde bislang von der Forschung vernachlässigt, sagen Sie.
    Klemm: Ja.
    Seidel: Warum ist das so?
    Klemm: Ganz lange hielt sich sehr zäh ein Narrativ, das im Zusammenhang auch mit kolonialen Diskursen des 19. Jahrhunderts steht. Demnach hat nämlich die arabisch-islamische Kultur nur im 9. und 10. Jahrhundert eine klassische Blütezeit erlebt, und alles, was danach kam, wurde als Niedergang oder als Dekadenz verstanden und auch tatsächlich so bezeichnet.
    Dann geht die Geschichte weiter, dass erst durch die Begegnung mit Europa eine kulturell-literarische Renaissance stattgefunden hätte. Die Arabistik hat dieses Narrativ natürlich schon längst überwunden, auch wenn das ziemlich lange ging, aber nach wie vor müssen wir mit den Konsequenzen leben, und diese Konsequenzen bedeuten oder heißen, dass wir längst noch nicht alles Material, was diese Regalreihen, von denen Sie am Anfang gesprochen haben, bereit halten, dass wir längst nicht alle diese Handschriften erfasst und erschlossen und erst recht nicht erforscht haben.
    Seidel: Sie sind davon überzeugt, dass dieses Narrativ des Niedergangs nach dem 10., 11. Jahrhundert, dass das falsch ist?
    Klemm: Jawohl.
    Ein zunehmend lebendig werdender Literaturbetrieb
    Seidel: Dann versuchen Sie doch, vielleicht noch mal auf den Punkt zu bringen, was aus Ihrer Sicht die arabische Literatur dieser Zeit des 12. bis 19. Jahrhunderts auszeichnet. Was macht sie vielleicht auch aus heutiger Perspektive so lesenswert?
    Klemm: Was diesen Literaturbetrieb so lesenswert und lebendig macht, ist, dass er zunehmend differenziert wurde. Immer mehr Leute beteiligen sich, auch Leute, die gar nicht zu den Gelehrten gehören. Spannend ist auch, dass nicht nur etwa Muslime dazu beitragen, sondern auch Christen, Juden und andere religiöse und auch ethnische Minderheiten. Die äußern sich alle in arabischer Sprache, weil das in der islamisch geprägten Kultur sozusagen die Bildungssprache, die Kultur- und Literatursprache war, die alle gesprochen haben, wenn sie was zu sagen hatten, sowohl schöne Literatur, Prosa, Wissenschaften, aber auch Reiseliteratur, Handwerksliteratur.
    Da kann man zum Beispiel Falknerei und Pferdezucht dazusetzen oder Wissenschaften, Geschichte, Grammatik, Naturwissenschaften, Medizin, Astronomie. Es gibt unendlich viele thematische Gruppen von Büchern, die das alles sehr lebendig und vielseitig machen, und genau das wollen wir herausarbeiten.
    "Ich denke, dass es ganz verschiedene Nutzer gibt"
    Seidel: Nun werden all diese Infos, die Sie in den nächsten Jahren sammeln wollen, dann in eine Online-Datenbank eingepflegt. An welches Publikum richtet sich die Datenbank? Wem könnte sie nutzen?
    Klemm: Ich denke, dass es ganz verschiedene Nutzer gibt. Zunächst mal: Die ist selbstverständlich ab dem dritten Jahr – so haben wir es uns vorgenommen – für die Fachwelt zu benutzen. Sie enthält viele, viele Daten, zum Beispiel Namen von Autoren, Namen an Orten, wo was passiert ist, Jahreszahlen, wo beispielsweise Bücher kopiert worden sind. Solche kleinen Notizen finden sich ja auch in den Büchern.
    Wir haben ganz viele sozialgeschichtliche und literaturgeschichtliche Daten. Und dann schafft es unser Informatiker, die alle miteinander verknüpfbar zu machen, so dass ganz verschiedene Leute, die Interesse haben, mit Literatur zu arbeiten, diese Datenbank nutzen können.
    "Wichtige Grundlage ist für eine friedliche und produktive Kommunikation"
    Seidel: Ich habe es vorhin gesagt: Bislang ist die arabische Literatur hierzulande ja eher etwas für Spezialisten, Spezialisten wie Sie und Ihre Kollegen, weniger etwas fürs breite Publikum. Haben Sie die Hoffnung, dass Ihr Forschungsprojekt auch daran vielleicht etwas ändern könnte?
    Die beiden Pergament-Bögen aus Birmingham mit arabischen Koran-Hand-Schriften
    Die beiden Pergament-Bögen aus Birmingham mit arabischen Koran-Hand-Schriften (dpa / Birmingham University / Handout)
    Klemm: Ich denke, dass es auf jeden Fall verschiedene Gruppen von Menschen anspricht. Es gibt viele Leute aus der arabischen Welt und da gibt es derzeit viele Wissenschaftler, die verzweifelt daran arbeiten, das kulturelle Erbe dieser Region zu retten und zu bewahren, die aber gleichzeitig in ihren Heimatstädten und Universitäten wie Damaskus und Aleppo überhaupt keine Existenzgrundlage mehr haben.
    Ein Projekt wie Bibliotheca Arabica ist in dieser Region überhaupt nicht umsetzbar. Das heißt, wir haben schon mal viele arabische Wissenschaftler-Personen, die sich ihrem kulturellen Erbe in dieser Datenbank auch annähern können.
    Und ich denke, dass es auch in Deutschland und in Europa von Relevanz ist, weil auch arabische Kultur hier in diesem Land immer wichtiger wird. Mit unserem Projekt, so denken wir, kommen wir tatsächlich auch an die Menschen heran und wir können ihnen, den Menschen aus diesen Regionen, auch eine gemeinsame Grundlage des Wissens geben. Damit denke ich auch, dass das eine wichtige Grundlage ist für eine friedliche und produktive Kommunikation, was wiederum auch im Sinne eines Grundlagenprojekts an einer deutschen Akademie sein muss.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.