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Alice Oswald: "46 Minuten im Leben der Dämmerung"
Moderne Rhapsodien oder: Was Homer einst sah

Die Engländerin Alice Oswald, eine klassische Philologin, schreibt Dichtung von großer klanglicher und bildlicher Schönheit. Ihre Poesie ist Welteroberung, genauer: Welt-Rückeroberung. "46 Minuten im Leben der Dämmerung" ist nicht zuletzt eine Hommage an Homer.

Von Marie Luise Knott | 26.07.2018
    Buchcover: Alice Oswald: "46 Minuten im Leben der Dämmerung" und Blick auf die Mündung des Flusses Dart bei Dartmouth
    Poesie der Welteroberung (Buchcover: S.Fischer Verlag, Foto: R3507_APA_Publication/Mark Read)
    Alice Oswald steht am Rednerpult und rezitiert ihr Langgedicht Memorial. Mit der Rechten klopft sie rhythmisch auf den Pultrand – als könne die Hand dem Kopf den Impuls der Erinnerung eingeben. Eine moderne Rhapsodin, die dem zuvor verdichteten Wort Leben, Hauch und Ton verleiht.
    In allen ihren Gedichten finde man, so erzählte Oswald einmal, mehr oder weniger ein Echo jenes Entzückens wieder, das sie beim ersten Lesen von Homer empfunden habe. Bei Homer sei ein Baum nie einfach ein Baum, sondern ein grünes, belaubtes echtes Etwas. Und jedes ihrer Bücher sei der Versuch, herauszufinden, wie er das mache; wie es gelingen könne, einen Baum in ein Gedicht hineinzustecken.
    Memorial nun, das im Original 2011 erschien, ist eine "poetische Ausgrabung" der Ilias. So wie Homer einst die mündlich überlieferten Erzählungen aus dem Trojanischen Krieg verschriftlichte und so der Nachwelt überlieferte, hat Oswald uns Heutigen Homers wesenhafte Neuheit erkundet und neu überliefert. Zu diesem Zwecke hat sie - wir sind schließlich im 21. Jahrhundert - den Korpus der Ilias radikal entkernt und 7/8 des Epos weggelassen, um, wie sie sagt, dessen "Atmosphäre" zu retten: Die Historie ist verschwunden, geblieben ist das Schicksal der Einzelnen, der Toten wie der Überlebenden. Wiederbelebt hat Oswald hierfür einerseits Schilderungen verschiedener Todesarten in Form von Klageliedern, sowie andererseits Homers Gleichnisse, die, wie sie sagt, ursprünglich der Hirtendichtung entstammen.
    Die grelle Wirklichkeit des Schlachtfelds
    Wie alle Rhapsodien das Publikum unmittelbar ansprechen und in Bann ziehen, so führen uns auch Oswalds Verse unmittelbar hinein in die "grelle unerträgliche Wirklichkeit" des Schlachtfeldes. Sie lenken unseren Blick auf die Fußsoldaten, die bei Homer nicht im Mittelpunkt stehen; denn wir, blind gegenüber unserer Wirklichkeit heute, sollen sehen, was Homer einst sah, als er, der Blinde, seinerseits die Schilderungen vernahm.
    Man könnte gegen den Zyklus einwenden, eine Aneinanderreihung von Totenklagen wirke schnell monoton. Tatsächlich ist das, was wir hören, einerseits voller erinnerten Lebens, und andererseits ganz von unserer Welt. Indem Oswald den Moment des Sterbens in einen lebendigen Augenblick zurückverwandelt, nimmt der Leser Anteil und spürt: Es hätte alles auch ganz anders kommen können – für jeden Einzelnen auf dem Schlachtfeld. Auch das In-die-Schlacht-Ziehen selbst wird aus dem schicksalhaften "So ist es gewesen" wieder in eine Tat zurückverwandelt. Und so treten uns beim Lesen und Hören heutige Kriege und Todesarten leibhaftig vor Augen.
    "Trauer ist schwarz ist aus Erde gemacht"
    ….heißt es einmal. Und weiter:
    "Sie dringt in die Augenwinkel ein
    Sie setzt sich als Kloß in der Kehle fest
    Wenn ein Mann seinen Bruder auf dem Boden liegen sieht
    Dreht er durch und kommt von nirgendwo gerannt
    Schlägt zu ohne hinzusehen und so starb KOON
    Erst verwundete er Agamemnon
    Dann ergriff er den steifgewordenen Fuß seines Bruders
    Und wollte ihn nach Hause schleppen rufend
    Hilfe um Gottes Willen das hier ist Iphidamas
    Helfe mir bitte jemand doch Agamemnon
    Schlug ihm den Kopf ab und das war es dann
    Zwei Brüder getötet am selben Morgen vom selben Mann"
    Man hört, wie die Übersetzung von Melanie Waltz und Iain Galbraith aufs Feinste den epischen Ton trifft. Zwischen die Klagen über die aus dem Leben Gerissenen hat die Autorin quasi als "response", wie sie sagt, ein Gleichnis gesetzt, leise Vergleiche, auch sie aus der Ilias, die alle mit einem "wie" beginnen:
    "Wie wenn zwei Winde einen Wald wollen
    Der Südwind und der Ostwind Beide zerren an den Armen der Bäume
    Und das Geräusch des raschelnden glattrindigen Hartriegels
    Von Eiche und Esche die lange Stecken aneinanderschlagen
    Ist eine Botschaft aus einer anderen Welt"
    Ein andermal hört man:
    "POLYDOROS ist tot der das Laufen liebte
    Und nun muss man es seinem Vater sagen
    Dem müden Mann der an der Wand lehnt Und nach seinem Lieblingssohn Ausschau hält
    Wie ein Löwe der seine Jungen durch einen Wald führt
    Und auf eine Linie von Jägern trifft
    Starren Blicks alle Kraft sammelt Das ganze Gesicht eine geballte Faust
    um die Steine seiner Augen"
    Alle Gleichnissätze werden zwei Mal gesprochen, zu fragil ist heute der in ihnen beschworene Zusammenhalt der Welt. Am Ende des Langgedichts sind die Funken des Lebens zerstoben, doch das Gleichnis, das den gemeinsamen Grund alles Lebenden wachruft, hallt nach. Die Natur, sie ist stärker als der menschengemachte Krieg. Wie lange noch?
    Mensch und Natur - Klangkarte des Wechselspiels
    Der Durchbruch gelang der englischen Dichterin und Altphilologin Alice Oswald mit ihrem Gedichtband "Dart" - eine Klangkarte des gleichnamigen Flusses. 2002 erhielt sie dafür den T.S. Eliot-Preis. Seither sind 5 weitere Gedichtbände erschienen und Oswald hat verschiedene Preise bekommen. Doch trotz ihrer Bedeutung im englischsprachigen Raum ist sie hier, in der Bundesrepublik, bislang kaum bekannt. Das dürfte sich nun ändern. 2016 hatte sie in Berlin die Samuel-Fischer-Gastprofessur inne. Nun hat der S. Fischer-Verlag einen Gedichtband auf Deutsch herausgebracht, der neben Memorial auch Oswalds jüngsten Gedichtband Falling Awake enthält. Der Titel ist Programm, denn Dichtung, zumal die ihre, ist ein Ins-Wachsein-Fallen des Wortes.
    Im Zentrum des ersten Teils von Falling Awake steht wieder das Element des Wassers, das so lange aus dem Himmel herabfällt, wie sie sagt, bis es, unten angekommen, im gleißenden Strahl der Sonne plötzlich wieder aufsteigt. Einmal hören wir den Gesang des Orpheus, dessen abgerissener verwesender Kopf den Fluss hinabtreibt, ein andermal lauschen wir einem Hastigen Bericht über den Tau:
    "Ich die ich blinzeln darf
    um den zauberbann der tageshelle zu brechen
    (...)
    ich, die ich die letzten drei sekunden in meinem kopf hören kann
    die gegenwart mir aber fernbleibt
    höre zu
    in diesem winzigen augenblick der reflexion
    will ich herausfinden wie es ist, aus dem geist
    der morgenröte hinabzusinken"
    Man hört es: Dichtung, zumal die von Alice Oswald, ist Anrufung; rhetorische Stilmittel wie Wiederholungen, Alliterationen oder Ellipsen prägen ihre Kunst.Der deutsche Buchtitel 46 Minuten im Leben der Dämmerung ist dem zweiten Langgedicht in Falling Awake entnommen. Dieser handelt von der Tragödie des Tithonos. Der griechische Mythos erzählt: Als sich die Morgenröte einst unsterblich in Tithonos verliebte und von Zeus Tithonos Unsterblichkeit erbat, willigte der Gott ein; widerwillig, wie es heißt. Doch da die Morgenröte vergessen hatte, für ihren Geliebten auch ewige Jugend zu erbitten, alterte Tithonos, ohne zu sterben, schrumpfte und schrumpfte. Eine göttliche Rache, eine menschliche Tragödie. Im Gedicht besingt Oswald die Dämmerung und wie die Welt Sekunde für Sekunde unmerklich aus der Nacht ins Wache fällt.
    "das dorf verloren in seinen
    Schleiern paar träume wie nesseln
    über wege gebeugt
    es kommen kaskaden der frühe und nun
    wird alles befragt ist es hell
    ist es hell, ist es hell der horizont hält sich bedeckt doch
    die nässe auf den blättern wirft schon
    mit blicken um sich und körperlose wälder wie schwarze
    spitze wo vögel einander fragen
    ist’s hell, ist’s hell
    nicht ganz"
    Aspekte der Übersetzung
    Zeit ist eines der zentralen Strukturelemente von Oswalds Dichtung. Ihrem Langgedicht "46 Minuten im Leben der Dämmerung" hat sie sogar die Form einer Partitur gegeben. Die Verse sind von Leerzeilen unterbrochen, am Rand sind vertikale "Takt"-Striche notiert: ein Maßband der Vortragszeit gewissermaßen. Wie ein Blinzeln durchbrechen die Worte das Schweigen. Von Zeit zu Zeit.
    Aber: Was macht eine Übersetzung dort, wo im Original der Klang selbst die Zeit spürbar macht. Im Englischen finden sich immer wieder Echobildungen. Das wiederkehrende, vogelzwitschernde it is light, it is light etwa hallt nach einer Pause von mehreren Zeilen in not quite aus. Die deutsche Übersetzung hat diesen klanglichen Aspekt nicht übersetzt und nach "ist’s hell, ist’s hell" mit "nicht ganz" weitergedichtet. So richtig das deutsche Wort in der Sache ist, so haben die Übersetzer doch mit solch einer Entscheidung die Klang-Zeit-Dimension des Gedichtes verloren gegeben. Lyrik übersetzen ist bekanntlich immer - auch - Verlust. Aber der Gewinn liegt im Fall der englischen Dichterin auf der Hand: durch diesen Band können wir endlich auch hierzulande teilhaben am grandiosen poetischen Reich der Alice Oswald, die mit allen Sinnen die Rückbindung des Menschen an die Welt ein wenig verlässlicher macht.
    Alice Oswald: "46 Minuten im Leben der Dämmerung". Gedichte
    aus dem Englischen von Melanie Walz und Iain Galbraith
    mit einem Nachwort von Iain Galbraith
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 176 Seiten, 24 Euro.