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Gastpriester auf Norderney
Insel der Seligen

Norderney hat keinen eigenen katholischen Priester und dennoch keinen Priestermangel. Geistliche kommen gern an attraktive Ferienorte, um sich um die Seele von Touristen zu kümmern – und um die eigene.

Von Ana Suhr | 13.08.2018
    Dünen und Sandstrand an der Nordküste der Insel Norderney
    Am Nordstrand von Norderney: arbeiten, wo andere Urlaub machen (Ana Suhr / Deutschlandradio)
    Ein kleines, sturmumtostes Eiland vor der ostfriesischen Küste ist in Puncto Seelsorge eine Insel der Seligen. Norderney hat zwar keinen eigenen katholischen Pfarrer, aber trotzdem keinen Priestermangel. Betreut wird die kleine, rund 500 Personen zählende katholische Gemeinde von Diakon Markus Fuhrmann und seiner Frau Siri. Sie hätten keine Probleme, genügend Gastpriester zu bekommen, der Andrang sei riesengroß, erzählt Markus Fuhrmann:
    "Die sind Wiederholungstäter, die fragen manchmal schon ein Jahr im Voraus an. Wir haben jetzt einen Gastpriester neu für die Winterzeit, für zwei Wochen im Januar. Der findet das so herrlich, dass er schon bis 2020 gerne immer kommen möchte im Januar und gesagt hat: ‚Ich sag euch das zu, dass ich dann kann."
    Das Angebot an die Gemeinde ist also da. Die Nachfrage wird mit einer kleinen Glocke eingeläutet.
    Die katholische Kirche St. Ludgerus auf Norderney
    Die kleine Glocke von St. Ludgerus läutet zum Gottesdienst (Ana Suhr / Deutschlandradio)
    Es ist kurz vor 10:00 Uhr an einem Donnerstagvormittag in Norderney Ort. Die Geräuschkulisse ist eine Herausforderung – sowohl für die Glocke als auch für mich: Transporter fahren in die Fußgängerzone hinein und liefern türenknallend ihre Waren aus, Fahrradfahrer klingeln Passanten aus dem Weg, und der allgegenwärtige Wind reißt trotz Fellwindschutz am Mikrofon meines Aufnahmegerätes.
    Vor dem Eingang der Kirche St. Ludgerus versammeln sich die Menschen. Etwa 25 Besucher haben an diesem Donnerstag in der Vorsaison den Weg in den Gottesdienst gefunden – alles Touristen, wie ich später von ihnen erfahren werde.
    Die Seele braucht Meer
    Dass keine ortsansässigen Gemeindemitglieder dabei sind, sieht Diakon Fuhrmann natürlich sofort, und er geht auch direkt darauf ein. Er spricht über Ferienzeit und Arbeitszeit, stellt in diesem Zusammenhang Gastpriester Michael Heyer vor, der mit der Gemeinde den Gottesdienst feiern wird, und erwähnt auch die Frau vom Deutschlandfunk, die mit ihren dicken Kopfhörern und dem Reportagegerät ebenfalls nicht nach Urlaub aussieht.
    "Ich bin Urlauberin. Ich finde das wunderbar! Ich bin jetzt das fünfte Mal hier auf Norderney mit meiner Freundin, mein Mann ist vier Jahre tot und seitdem kommen wir jedes Jahr ein- oder zweimal, und: Ja, es gibt wieder Kraft", erzählt mir eine Besucherin nach dem Gottesdienst.
    "Sind Sie Norderneyer?", möchte ich von einem Paar wissen, das ebenfalls am Gottesdienst teilgenommen hat. "Nein, nein, auch Gäste hier, seit 46 Jahren." "Meine Frau, ich nicht", korrigiert ihr Mann, und sie schwärmt: "Man spürt einfach, dass es nicht reicht, nur die schöne Natur zu genießen und das Meer zu erleben. Die Seele braucht mehr, und das tut einfach gut, das hier zu bekommen, vor allem in dieser wunderbaren Kirche. Das ist einfach ein Ort der Kraft und der Ruhe."
    "Davon profitiert man selbst auch"
    Ich bekomme ein weiteres Besucherpaar vor das Mikrofon. "Wir sind Touristen, wohnen zwischen Köln und Düsseldorf. Ich find das sehr schön, dass das einer macht", freut sich die Frau, und ihr Mann ergänzt: "Wenn sie bei uns zu Hause im Kölner Raum jeden Wochentag eine Messe haben mit einem Priester, ist schon ungewöhnlich. Sie kennen wahrscheinlich das Problem, sind ja nicht mehr ganz so viele da. Insofern wird das hier gar nicht so schlimm sein, weil ja die Priester auch hier auf Norderney Urlaub machen."
    Genau so sehen das auch die Gastpriester, erfahre ich kurz darauf bei einem Gespräch mit Markus Fuhrmann und Michael Heyer im Pfarrbüro nebenan.
    "Es ist sehr einfach, hier zu sein, also man braucht sich nicht groß umstellen, das ist eigentlich schön geordnet hier alles. Es ist – wie Sie ja eben auch gespürt haben – unspektakulär, man kann selber auch etwas von den Menschen, die am Gottesdienst teilnehmen ... man merkt genau, also die sind jetzt bewusst da. Da profitiert man selbst auch von. Ich laufe ganz gerne, bin mit meinem Hündchen da, und genieße einfach die Natur und diesen schönen Ort hier", erzählt Gastpriester Heyer.
    Messe in Jeans und Joggingschuhen
    Auch er ist ein "Wiederholungstäter" und schon zum dritten oder vierten Mal hier. So ganz genau wissen das gerade weder er noch Markus Fuhrmann. Letzterer möchte aber noch etwas betonen: "Es ist mehr Urlaub, wir legen schon aber Wert darauf, dass die Gottesdienste vorbereitet sind, und dass die Predigten auch gut sind und dass sie eine gewisse Frische haben."
    Zumindest optisch wirkt Heyer frisch und eher unkonventionell. Während des Gottesdienstes hatte er sein eigenes liturgisches Gewand übergestreift, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Darunter lugten seine Beine in Jeanshosen und Joggingschuhen hervor, gerade so, als hätte er seinen Strandlauf nur kurz unterbrochen. Diese Lockerheit schlägt sich auch auf die Arbeit nieder. "Man ist freier", sagt Heyer, "also ich zumindest bin dann freier auch nochmal, weil ich glaube, dass die Menschen hier auch besonders ansprechbar sind.
    In anderer Stimmung
    Markus Fuhrmann pflichtet ihm bei: "Das ist für uns eine Chance als Kirche, dass wir die erreichen können auf einer anderen Ebene, in einer anderen Stimmung, in einer anderen Lebenssituation, wo die vielleicht offener sind. Und es gibt schon doch Leute, die sagen, ‚ich war lange nicht mehr in der Kirche, aber hier kennt mich ja keiner, hier sieht mich keiner von meinen Leuten zuhause, und ich war angenehm überrascht."
    Für die Gottesdienste während der Hauptsaison und an den Wochenenden reichen die rund 50 Sitzplätze im Kirchenschiff von St. Ludgerus nicht aus – die sonntägliche Eucharistie wird in der ehemaligen Sommerkirche Stella Maris gefeiert. Markus Fuhrmann und ich gehen die paar Schritte durch den Wind zu Fuß.
    Die Kirche Stella Maris wurde 1931 von Dominikus Böhm im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaut
    Stella Maris wurde 1931 von Dominikus Böhm erbaut (Ana Suhr / Deutschlandradio)
    Stella Maris liegt nur rund 170 Meter entfernt am Rand von Norderney Ort und ist eine touristische Sehenswürdigkeit. Mit 700 Plätzen ist sie außerdem die größte katholische Kirche in ganz Ostfriesland. Erbaut wurde sie 1931 im Stil der Neuen Sachlichkeit vom Architekten Dominikus Böhm.
    An das Kirchenschiff grenzt der Gemeindesaal, darüber liegt die Ferienwohnung für die Gastpriester. Michael Heyers Hund liegt vor dem Eingang in der Sonne. Diakon Markus Fuhrmann und ich setzen uns an den großen Tisch im Gemeindesaal, Siri Fuhrmann gesellt sich dazu. Sie erzählt:
    "Dafür bin ich eigentlich Priester geworden"
    "Die Beziehungen, die aus dieser Arbeit mit den Priestern erwachsen, lässt auch spürbar werden, wie groß der Druck ist unter den Priestern. Also, welchen Verwaltungsdruck die zuhause haben. Und die staunen auch so ein bisschen, wenn die unsere Arbeit hier erleben, auch sehen, dass wir als Ehepartner und als Familie sozusagen hier vor Ort agieren, dann sehen die im Grunde genommen das, was ihre Sehnsucht als Seelsorger ist. Jetzt gar nicht mal die Frage nach Partnerschaft, sondern die Frage ‚ich habe Zeit für den Menschen‘. Wenn ich jetzt an ein Gespräch zurückdenke: Es ist die größte Not, die dann am Küchentisch zum Ausdruck kommt: ‚Ich habe überhaupt keine Zeit für die Begegnung. Und hier ist die Struktur so geschaffen, dass wenn Menschen mit mir als Priester ein Gespräch suchen, ich auch wirklich Zeit dafür habe. Und dafür bin ich eigentlich Priester geworden.‘"
    Siri und Markus Fuhrmann
    Siri und Markus Fuhrmann betreuen die katholische Gemeinde auf Norderney (Ana Suhr / Deutschlandradio)
    "Also man könnte ein bisschen überspitzt formulieren, dass wir in Ansätzen auch manchmal Priesterseelsorge betreiben", sagt Markus Fuhrmann.
    Gleich dreifache Win-win-Situation
    Das Konzept mit den Gastpriestern scheint also eine rundum lohnenswerte Sache zu sein: lohnenswert für die Urlauber, die das Angebot dankbar annehmen, lohnenswert für die Gastpriester, die mit frischen Impulsen in ihre Heimatgemeinden zurückkehren, aber auch lohnenswert für die Gemeinde, weil sie immer wieder Neues kennenlernen kann. Es muss nur passen, denn nicht jeder Priester ist dafür geeignet, weiß Markus Fuhrmann: "Es müssen immer Menschen sein, die mit einer selbstbewussten Gemeinde zurechtkommen. Also, wer hier alte Pfarrherrlichkeit spielen will, der merkt ganz schnell, dass das der falsche Ort ist und auch die falsche Gemeinde."