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Biennale di Danza
Bewegungsexperimente in der Lagune

Unter dem Titel "Mondo Novo" hat die Tanz-Biennale in Venedig begonnen: mit allein 28 Weltpremieren. Thematisch setzt sich das Festival diesmal unter anderem mit dem Internet auseinander. Konzeptkünstler Jérôme Bel schenkt dabei einer Auswahl jener Laientänzer, auf die man sonst nur im Netz stößt, ein Forum in der Wirklichkeit.

Von Wiebke Hüster | 24.06.2014
    Gondeln, Boote und ein Vaporetto fahren auf dem Canale Grande vor der Rialtobrücke in Venedig
    Treffpunkt für Tanzinteressierte: Venedig (dpa picture alliance/ Waltraud Grubitzsch)
    Auf den ausgedehnten Spielfeldern des World Wide Web tummeln sich nicht nur Katzen. Beinahe ebenso gerne wie ihre Haustiere zeigen Menschen im Internet, was sie können und wovon sie glauben, dass es andere auch gerne können würden: Den Yoga-Kopfstand oder das Sieben-Minuten-Garantiert-Fettverbrennende-Workout. Wie man sein Haus aufräumt ein für alle Mal. Oder wie man tanzt. Im eigenen Wohnzimmer, auf öffentlichen Plätzen, auf Bühnen und bei Wettbewerben.
    Jérôme Bel, französischer Konzeptkünstler auf dem Feld des Tanzes, greift in seinen jetzt für die Biennale di danza in Venedig entstandenen Uraufführungen diese Begeisterung, eine Kunst auszuüben und sie mit anderen zu teilen, auf. Allerdings präsentiert er seine Resultate nicht virtuell, sondern im Palazzo Grassi und in der venezianischen Musikakademie, einem wunderschönen Palazzo mit Blick über das ganze Stadtviertel San Marco.
    Jérôme Bel bringt also das Internet auf die Bühne und schenkt gleichzeitig einer Auswahl jener Laientänzer, auf die man sonst nur im Netz stößt, ein Forum in der Wirklichkeit. 24 Venezianer hat er in einem Casting ausgewählt und anschließend zwei Wochen mit ihnen geprobt. Zwei unterschiedliche Präsentationen sind das Ergebnis. Im Palazzo Grassi ist der Boden aus poliertem Beton, was die ohnehin prekäre Situation der Auftretenden noch schwieriger macht.
    Es ist bei den Vorführungen der einzelnen ganz unklar, ob sie sich wirklich genieren oder freuen oder ob sie solche und ähnliche Emotionen tatsächlich gelernt haben zu reproduzieren. Alle erscheinen in offensichtlich privaten, Kleidern, kreischbunten Leggings und eines Fellini-Films würdigen Oberteilen. Jeder hat im ersten Durchgang drei Versuche, eine Pirouette zu schaffen und im zweiten Durchgang, auf halber Spitze die Balance zu halten, während der Fuß des Spielbeins unterhalb des Standbeinknies angelegt ist. Alle Variationen von Kippeln, wackeln, über schwanken bis hin zum Absetzen demonstrieren dass die Darstellung von Ballett, die das Pappschild mit der Aufschrift "Balletto" verspricht, nicht so leicht ist.
    Doch wenn das dreieckige Schild gedreht ist und "Poesia" anzeigt, "Dichtung", tragen alle ein paar Zeilen Dante vor, und zwar mit wenig mehr Glück als bei den Pirouetten. Selbst die "Saluti" zu Guter letzt, die Verbeugungen, reizen mehr zum Gelächter als zum Dank.
    Rückbezug auf die amerikanische Postmoderne
    Zurückkatapultiert aus der Youtube-Welt in die Realität relativiert sich die Sehnsucht nach Ruhm und durch das Zusammentreffen von zwei Dutzend Menschen ohne besondere Begabung für die Tanzbühne – entsteht ein Effekt von Ernüchterung, die das Publikum mit den Akteuren teilt. Und daraus sehr viel Sympathie. Im zweiten Stück, "Mondo Novo" führen die Teilnehmer Tänze vor, die sie üben und lieben, und alle anderen machen so gut mit, wie sie können.
    Wie viele andere auf der Biennale gezeigte Künstler bezieht sich Bel hier stark auf die amerikanische Postmoderne. Biennale-Direktor Virgilio Sieni geht diesen Interessen der Künstler nach und trägt dem Rechnung, in dem er einem der Heroen der Bewegung, dem heute 74-jährigen Steve Paxton, den Goldenen Löwen der Biennale überreicht und dessen Stück "Bound" zeigt, ein Solo über einen Vietnam-Veteranen, der in den amerikanischen Alltag zurückkehrt und nicht mehr zurechtkommt. Steve Paxton:
    "Ich habe darüber nachgedacht, was sich in diesen 30 Jahren zwischen der Premiere damals und den Aufführungen jetzt verändert hat, aber tatsächlich haben Veteranen – etwa aus Afghanistan - heute genau dieselben Probleme. Sie bekommen nicht, was sie verdient hätten: Geld, eine Wohnung, Hilfe in Bezug auf ihre seelischen, mentalen und körperlichen Probleme. Das ist ein unglaublicher Skandal."
    Der eigentliche Skandal des Tanzes der Gegenwart besteht wiederum darin, dass der zeitgenössische Tanz, wie man in den Arbeiten von Jonathan Burrows oder Laurent Chétouane etwa beobachten konnte, sich auf die Moderne und Postmoderne bezieht in einem verdächtigen Ausmaß. Lehrt die Biennale die Danza in Venedig eines, dann dies: Der Neoklassiker George Balanchine hatte recht, als er sagte, man könne nicht tanzen, dass auf einem bestimmten Stuhl George Washington gesessen habe. Steve Paxton konnte aber doch tanzen, dass jemand aus einem Krieg heimkehrt und den Frieden zuhause nicht mehr begreift. Was aber der Tanz bestimmt nicht kann, ist in einem Stück diskutieren, ob der eine Recht hatte oder der andere, und das im Sitzen.