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Biermann: DDR erzog zum Untertanen

Der Liedermacher Wolf Biermann versteht seine Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz als Ehrung für alle DDR-Bürger, die dem Regime die Stirn geboten haben. "Ich war erschüttert darüber, wie viele tapfere, kluge und aufrichtige Menschen es gab, die ich damals nicht erkannt, die ich sogar verkannt habe, weil ich es nicht wusste", erinnert sich Biermann an das Studium seiner Stasi-Akten nach dem Zusammenbruch der DDR.

Moderation: Bettina Klein | 15.11.2006
    Bettina Klein: "Ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am liebsten hier." Biermann hat damit die Stimmung bei vielen nicht nur seiner Generation damals wiedergegeben. Die innere Zerrissenheit in einem zerrissenen Land. Das Lied löst bis heute bei Konzerten starke Emotionen aus. Weshalb? – Biermann sagt, man muss nicht das geteilte Deutschland kennen, um dieses Gefühl zu verstehen. Alle Liebenden lernen es irgendwann kennen. Das ist seine Poesie, die weit über die Politik hinausreicht.

    Seit Wochen schon wird über seine Ausbürgerung vor 30 Jahren geschrieben, über die Protestwelle unter vielen Künstlern, mit der das Ausbluten des Landes begann. Ich habe Wolf Biermann gestern gefragt, ob er eigentlich noch immer gerne Interviews über die Ereignisse damals gibt.

    Wolf Biermann: Ich finde es immer gut, wenn man sich noch mal mit neuem Kopf, weil man sich inzwischen auch geändert hat, an dieselben Dinge erinnert, um sie vielleicht auch in einem neueren Licht zu sehen. Denn Geschichte, das was hinter uns liegt, ist kein fester Stein, der sich nicht mehr bewegt, sondern man sieht ja denselben Vorgang auch immer mit neuem Blick. Deswegen ist das für mich auch interessant.

    Klein: In welchem anderen Licht sehen Sie die Ereignisse damals, vielleicht im Vergleich zu vor 10, 20 Jahren?

    Biermann: Als ich ausgebürgert wurde, lief ich herum wie das Leiden Jesu zu Pferde. Ich lief herum, als wäre mein Leben beendet. Ich hatte Todesangst, dass meine Karriere als Dichter jedenfalls vorbei ist. Ich wollte nicht sterben, so todessüchtig war ich nicht. Das kann ich mir gar nicht leisten, weil die Nazis haben schon 20 Leute aus meiner Familie ermordet. Da muss ich nicht noch freiwillig hinterherspringen. Aber ich wusste, dass ich nie im Leben wieder ein Gedicht schreibe und ein Lied, weil die Musen mich ja nun nicht mehr küssen im Westen. Das war mir klar wie Kloßbrühe.

    Klein: Wieso war Ihnen das so klar?

    Biermann: Weil ich blöd war. Weil ich Angst hatte, dass ich nichts mehr zu Stande bringe aus einem ganz banalen Grund: Ich tappte hier herum wie ein Neugeborener, wie ein Idiot. Und man kann kein gutes Gedicht schreiben, wenn man nur klug und gebildet und begabt ist. Man muss ganz nebenbei auch noch die Menschen kennen, die gesellschaftlichen Verhältnisse.

    Klein: Wie lange haben Sie dann gebraucht, um sich wieder so heimisch zu fühlen?

    Biermann: Ich weiß es nicht. Ich kann die Frage eigentlich nur falsch beantworten, weil man sich darüber geradezu grotesk irren kann. Ich könnte sagen ein, zwei, drei Jahre. Das stimmt. Es dauerte vielleicht noch etwas länger.

    Man lernt nicht so schnell. Die sprachen zwar alle Deutsch, weil ich ja von Deutschland nach Deutschland kam, aber ich verstand so schlecht, und ich missverstand so viel, weil ich eben trainiert war auf die östlichen Verhältnisse. Da konnte ich alles gut verstehen. Da konnte ich sogar das "Neue Deutschland", die Parteizeitung der SED, lesen und konnte glänzend zwischen den Zeilen lesen, wo übrigens auch gelogen wurde, damit Sie es nur wissen. Zwischen den Zeilen stand auch nicht die Wahrheit, aber auch das rauszukriegen, muss man unglaublich gut trainiert sein. Das ist fast so etwas wie eine sportliche Leistung. Und wenn man dann in eine neue Gesellschaft geworfen wird, dann ist man wieder der Anfänger. Dann ist man der Dumme, der Junge, wie Martin Luther es nennen würde. "Ich soll euch den Jungen machen", wetterte er mal.

    Und ich? – Ich spielte mit dem Gedanken, vielleicht Mathematiklehrer zu werden. Ich hatte ja an der Humboldt-Universität das Staatsexamen gemacht in Mathematik, und da dachte ich dafür reicht es, irgendwelchen Pieseln im Gymnasium die Infinitisimalrechnung beizubringen. Aber ob ich dabei glücklich geworden wäre, möchte ich schwer bezweifeln.

    Klein:! Herr Biermann, Gott sei Dank haben Sie einen anderen Weg gewählt. Ich würde gerne noch mal fragen, was Sie gerade so beschrieben haben: Diese Angst, nie wieder kreativ sein zu können, sich nie wieder im westlichen Teil Deutschlands so heimisch zu fühlen wie im östlichen, diese Angst haben viele ausgebürgerte Künstler damals artikuliert und gerade deswegen wurden sie von vielen DDR-Bürgern nicht verstanden, die herzlich gerne auf die andere Seite der Mauer gegangen wären. War Ihnen das damals fremd, dass man Sie auch beneidet hat darum?

    Biermann: Nein. Da wäre ich ein Simpel gewesen, wenn ich das nicht wusste. Aber ich wusste auch, dass ich im Unterschied zu den vielen, vielen Leuten, die nichts weiter wollten als in den Westen, ja das riesige Privileg hatte, dass ich in diesem Osten, in dieser totalitären Diktatur eine wunderbare Rolle spielen konnte als kleiner Drachentöter. Verstehen Sie? Das macht doch ein Menschenglück aus, dass man mit Gedichten und Liedern Dinge sagen und deutlich machen kann, ausschreien, aussingen, die andere Menschen nur unter der Decke heimlich ihrer Frau zuflüstern. Das ist ein Riesen-Lebensglück für jeden Menschen, wenn er das Gefühl hat, dass er etwas liefern kann, was andere brauchen.

    Klein: Wenn Sie sich ansehen, Wolf Biermann, wie an Ihre Ausbürgerung und die Folgen damals in der DDR heute erinnert wird, Stichwort, ja schon, "Anfang vom Ende", eine Protesthaltung, die so vergleichbar dann nicht mehr aufgetreten ist, zugespitzt gefragt, wird das eher überschätzt oder eher unterschätzt in der Betrachtung der DDR oder auch der deutschen Geschichte?

    Biermann: Na ja, die Ausführung liest man in jedem dritten Blatt: "War der Anfang vom Ende der DDR?" Ein geflügeltes Wort, ist aber unter uns gesagt nicht ganz richtig. Niemals würde eine Gesellschaft wie die DDR, auch nicht so ein totalitäres Regime, zusammenbrechen, weil ein junger Dichter mit seiner Gitarre den Fußtritt kriegt und zum Klassenfeind rübergeschmissen wird. Sondern was wirklich die DDR tief erschüttert hat, war der Protest gegen diese Ausbürgerung. Damit hatte kein Mensch gerechnet: keiner im Westen, keiner im Osten, ich sowieso nicht und die Leute im Politbüro auch nicht. Dafür gab es keine Präzedenzfälle, dafür gab es keine Erfahrung.

    Und das hat das Regime in der DDR doch tief erschüttert, und zwar nicht nur, muss man aus hygienischen Gründen deutlich genug anmerken, weil 13 berühmte Schriftsteller protestiert haben. Sie erinnern sich an diese Petition, die ja keine Bittschrift war, wie das Wort behauptet, sondern eine freche Kritik. Es waren die vielen so genannten einfachen Menschen, über die keiner redet, die keinen berühmten Namen haben und die deswegen auch brutal bestraft wurden für ihre Kritik gegen die Ausbürgerung. Die kamen nämlich ins Gefängnis, während die berühmten Schriftsteller Stefan Heym - Sie erinnern sich -, Jurek Becker, Manfred Krug und die Schauspieler, die Künstler noch grausamer bestraft wurden, nämlich nicht mit Gefängnis, sondern mit noch größeren Privilegien. Das ist eine besonders wirksame infame Art der Bestrafung.

    Klein: Einige der Protagonisten, also jener, die gegen Ihre Ausbürgerung protestiert haben damals, sind sich heute auch nicht mehr wirklich grün. Also ein gemeinsames Gedenken oder Erinnern findet überhaupt nicht statt.

    Biermann: Das haben Sie im "Spiegel" gelesen!

    Klein: Und das stimmt nicht?

    Biermann: Und das ist falsch! Meine Liebe, das ist falsch. Warum? – Weil: Die waren sich auch, als sie unterschrieben, nicht grün. Die waren alle zerfreundet in der damaligen Zeit.

    Klein: Weshalb war das so?

    Biermann: Erstens weil sie Einzelkämpfer waren, weil sie feige waren, weil es schwer war, sich in so einem totalitären Regime zusammenzutun - die Herrschenden würden sagen zusammenzurotten -, und weil Schriftsteller sowieso Einzelathleten sind, eitel und mehr auf ihre Sache bedacht. Und das ist fast so etwas wie eine Berufskrankheit.

    Die haben sich nur für diesen Moment zusammengefunden, weil sie alle dieselbe Angst hatten, dass, wenn der Biermann rausgehauen wird, ausgebürgert wird - Sie verstehen: das ist eine politische Kampfform, eine Waffe der Herrschenden, die die Nazis in Deutschland in Gebrauch genommen haben, Ausbürgern. Deswegen sagte Stefan Heym auch sehr geistreich, wir fürchten alle, dass das Ausbürgern missliebiger Schriftsteller und Künstler sich einbürgert. Das heißt, die zitterten mit Recht um sich selbst. Und das hat sie vereint.

    Klein: Sind Sie denn noch mit einigen von damals, die sich ja mit Ihnen solidarisch erklärt haben, befreundet?

    Biermann: Oh ja! Glänzend verstehe ich mich noch mit Jurek Becker. Ich rede oft mit ihm. Er sitzt zwar schon auf der Wolke, aber wir sind ja sehr innige Freunde immer gewesen. Und vor allen Dingen mein Freund Günter Kunert, der Schriftsteller, der gar nicht weit von Hamburg in einem Dorf lebt und den ich unter uns gesagt für einen der drei großen Dichter in Deutschland halte. Fragen Sie mich jetzt nicht, wer die anderen sind. Sonst lege ich sofort auf.

    Klein: Herr Biermann, lassen Sie uns noch einen Blick auf die Situation in Deutschland im Jahre 2006, 30 Jahre nach dieser Geschichte damals ,werfen. Wie einverstanden sind Sie mit dem, was Sie in Sachen deutscher Einheit erkennen und auch was die Geschichtsbetrachtung im Augenblick angeht?

    Biermann: Na ja, dass ich mich freue über die Wiedervereinigung, dass ich das Wort Wiedervereinigung mit IE schreibe und nicht mit I wie Günter Grass, mit dem ich zerfreundet bin, deswegen übrigens. Der schreibt es ja mit Widervereinigung. I. Dass ich mich also darüber freue, dass dieses Regime zusammengebrochen ist und die Deutschen wieder in einem Land leben, das können Sie sich doch wohl denken. Aber dass diese Wiedervereinigung viel, viel schwieriger sich erweist, als manche Leute damals dachten - ich auch natürlich -, das ist natürlich ein Kummer, der mich bedrückt und viele andere Leute auch. Und wissen Sie was das Komische an diesem Kummer ist?

    Klein: Nein.

    Biermann: Weil das Elend der so genannten Ossis - ob Sie es glauben oder nicht - besteht darin, dass sie einen zu reichen Bruder haben, der ihnen zu viel rüberschmeißen kann und auch muss als Bruder. Die Polen oder die Tschechen, denen geht es viel, viel besser, weil es ihnen viel, viel schlechter geht, weil das Hauptelend der ganzen Menschen aus dem Ostblock, die in derselben Struktur aufgewachsen sind, wenn auch mit verschiedenen nationalen Farben, das Hauptelend war ja nicht, wie manche Leute im Westen immer so denken, die Armut. Das ist ein sehr relativer Begriff. Die DDR war gemessen an der Menschheit, zu der wir ja nebenbei auch noch gehören, ein sehr reiches Land. Aber es war die Entmündigung. Es war die Erziehung zum Untertanenleben, dass man für nichts verantwortlich ist, weder in der Gesellschaft noch für sich selbst. Diese Verstümmelung, die haben fast alle Menschen in allen Ostländern mehr oder weniger schwer erlitten, und die repariert sich eben besser, wenn man endlich auch unter schwersten Bedingungen wie die östlichen Nachbarn Polen, Rumänien, Bulgarien, Sowjetunion, also jetzt Russland, wenn die endlich für sich selbst verantwortlich sind. Die wissen: Es gibt nur einen Menschen, der ihnen wirklich hilft, aus dem Elend rauszukommen, und das sind sie selber. Diese Lektion ist das, was den so genannten Ossis leider vorenthalten wird, vermasselt wird.

    Klein: Aus dem Elend herauskommen, Herr Biermann, möchten natürlich auch die damaligen Opfer. Der Bundespräsident hat gestern gesagt, man muss ihnen stärker zuhören, den Opfern des DDR-Regimes. Haben Sie eine Idee, wie das funktionieren soll?

    Biermann: Nein! Dass ich mich darüber ärgere, wenn die Leute, die wirklich dort gekämpft haben und gelitten haben und die nicht so berühmt sind wie Herr Biermann oder Herr Havemann und von denen dauernd die Rede ist, sondern die so genannten Namenlosen, ohne die es aber auch keinen Biermann geben würde, unter uns gesagt, dass die sozusagen angeschmiert sind von der Geschichte und den Sieg sozusagen als eine Niederlage erleiden, weil sie nämlich wieder hinten dran sind, und dass ihre Peiniger von gestern, die Stasi-Offiziere zum Beispiel, die Spitzel, die sitzen im Bundestag sitzen, die fressen meine Steuern auf und spreizen sich, das ist natürlich für die ehemaligen Opfer der DDR eine bittere, bittere Lektion. Die werden alle nicht so leicht damit fertig, weil sie darüber kein Lied und kein Gedicht schreiben können wie der Mann, mit dem Sie gerade am Telefon sprechen.

    Klein: Dieser Mann bekommt an seinem 70. Geburtstag das Bundesverdienstkreuz.

    Biermann: Na ja, nun dürfen Sie einmal raten, wer damit nach meiner Meinung gemeint ist?

    Klein: Nämlich?

    Biermann: Doch nur diese Menschen, über die keiner redet, die so genannten Namenlosen. Ich habe doch, wie Sie wissen, meine Akten lesen dürfen als einer der ersten in der Gauck-Behörde damals nach der Wende. Ich war erschüttert darüber, wie viele tapfere, kluge und aufrichtige Menschen es gab, die ich damals nicht erkannt, die ich sogar verkannt habe, weil ich es nicht wusste. Die konnten sich nicht schmücken damit, was sie für Heldentaten vollbringen. Sonst wären sie nämlich weg gewesen. Das heißt, die Akten sind in erster Linie für mich ein Dokument für die Tapferkeit, Aufrichtigkeit, den Opfermut, die Hilfsbereitschaft vieler so genannter einfacher Leute, die bei näherem Hinsehen - das wissen Sie aber auch selbst - alles andere als einfach sind.

    Klein: Der Liedermacher Wolf Biermann im Gespräch mit dem Deutschlandfunk.