Dienstag, 23. April 2024

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Big Brother vor der eigenen Haustür

Nirgendwo in Europa gibt es eine so ausgedehnte Videoüberwachung öffentlicher Plätze und Verkehrsmittel wie in Großbritannien. In einem Londoner Stadtviertel können Anwohner gegen Gebühr die Videoaufzeichnungen abonnieren, damit man auch weiß, was der Nachbar so alles treibt. Matthias Becker und Thomas Ratzke berichten.

23.05.2006
    "Wir weisen sie darauf hin, dass Sie von Überwachungskameras gefilmt werden, und dass alle Bilder aufgezeichnet werden."

    Die freundliche Stimme auf dem Londoner U-Bahnhof Shoreditch weist die Fahrgäste darauf hin, dass sie per Closed Circuit Television (CCTV) aufgezeichnet werden. Für Aufsehen sorgt diese Mitteilung keineswegs. Denn in keiner anderen europäischen Metropole überwachen mehr Videokameras ihre Bewohner als in der britischen Hauptstadt. So wird jeder Brite täglich von rund 300 verschiedenen Überwachungskameras in 30 verschiedenen Netzwerken aufgezeichnet.

    Nur eine Viertelstunde Fußweg von der Londoner City entfernt liegt der Stadtteil Shoreditch. Seit April steht der Name des Bezirks auch für eine neue Qualität in Sachen Kameraüberwachung.
    James Morris ist Chef des gemeinnützigen Vereins Shoreditch Digital Trust der sich zum Ziel gesetzt hat, den Bezirk aufzuwerten. Die Kriminalitätsrate ist hier vergleichsweise hoch, das Durchschnittseinkommen niedrig. Sozialer Wohnungsbau steht gepaart neben teuren Eigentumswohnungen. Hier und dort ein Graffiti, Jugendliche, die ihre Freizeit auf der Straße verbringen. Seit April beobachten elf Kameras die drei Straßen zwischen Old und Pitfield Street. Neu daran ist, dass die Bewohner in Shoreditch die Möglichkeit haben, selbst die Aufzeichnung zu verfolgen. Wie beim Pay TV wird ihnen das Bildmaterial gegen eine monatliche Gebühr live freigeschaltet.

    Morris: "Ein Teil unseres Angebots ist Shoreditch TV, und dieses Fernsehprogramm besteht aus einem Kriminalitätskanal, einem Geldkanal und einem lokalen Kanal. Im Verbrechenskanal werden wir den Zugang zu den Videoüberwachungskameras vor Ort ermöglichen, ein lokales Netzwerk von Internetkameras. Dadurch können die Leute ihre Umgebung von ihrem Fernsehgerät aus überwachen."

    Bislang können sich rund 2000 Bewohner im wahrsten Sinne des Wortes selbst ein Bild machen. Vom Sofa im vierten Stock aus können sie nun die Straße, Hauseingänge oder die Mülltonnen vor der eigenen Tür beobachten. Wird etwas Verdächtiges in Augenschein genommen, soll sofort die Polizei gerufen werden.

    "Das East End war dafür bekannt, dass sich die Leute hier umeinander gekümmert haben, und weil heute die Menschen wegen ihrem Arbeitsleben beschäftigter sind als früher, gibt es weniger Gemeinschaft. Die Idee war also, wir nutzen neue Technik, um das wieder herzustellen, damit die Leute mit ihrer Videokamera ihre Nachbarn sehen und beobachten können, was in ihrer Gegend los ist."

    Im liberalen England ohne Passpflicht, bleibt die Kritik an dieser neuen Dimension der Observierung nicht aus. William McMahoun ist Vorsitzender des unabhängigen Forschungsinstituts Crime and Society Foundation:

    "Der Einsatz von Videoüberwachung für das digitale Fernsehen in Shoreditch bedeutet eindeutig, dass das Strafrecht in den Alltag ausgeweitet wird."

    Derlei Zweifel sind hingegen von den Anwohnern selten zu vernehmen:

    "Das ist doch eine gute Idee. Ist doch klar, wenn es hier viel Kriminalität auf dem Gelände gibt, wollen die Leute mitkriegen, was passiert, wer da rumläuft. Nein, das ist eine gute Sache."

    "Manchmal berührt das schon die Privatsphäre, wenn man zum Beispiel nachts betrunken nach Hause kommt und alles von der Überwachungskamera aufgezeichnet wird."

    " Das war einmal eine schlimme Gegend hier. Aber jetzt ziehen immer mehr Geschäftsleute hierher, Leute, die in der City arbeiten. Deshalb interessieren sie sich jetzt für diese Gegend. Vor zehn Jahren war es ihnen völlig egal. Aber jetzt, wo Leute mit Geld hierher ziehen, kommt auf einmal auch mehr Polizei und mehr Kameras."

    Der 17-jährige Ben ist hier aufgewachsen und steht mit seiner Einschätzung eher allein da. Für James Morris, den Chef des Shoreditch Digital Trust. ist das jedoch der Anfang:

    "Es gab Anfragen aus einer ganzen Reihe von europäischen Ländern, die wissen wollen, was wir hier machen, und ob ein Digital Bridge Service dort auch funktionieren würde."

    Auch wenn sich bislang nicht einmal die Hälfte der Anwohner für ein Abonnement von Shoreditch TV entschieden hat, scheint das Projekt erfolgreich zu sein. Doch der Datenschützer William McMahoun hat weiter reichende Bedenken:

    "Eine der Strategien der Stadtverwaltung ist die soziale Säuberung. Das bedeutet, du wirst die jungen Leute los, die Alkoholiker, die Obdachlosen, damit Angehörige der Mittelschicht sich bewegen können, ohne sich bedroht zu fühlen."

    Die Veränderung der Sozialstruktur in Shoreditch zeigt für die Alteingesessenen erste Konsequenzen.

    Ben: "Ich will bei meinen Eltern ausziehen, aber ich kann mir die Wohnungen hier einfach nicht leisten. Also eigentlich sagen sie mir 'Du bist in einem Drecksloch aufgewachsen, aber jetzt, wo es ein netter Ort wird, musst du wegziehen!'"