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"Big Orchestra" in Frankfurt
Synästhetische High-Performance

Werke, Objekte und Möbel auch als Musikinstrumente - das Verhältnis zwischen Bild und Klang ist in der Schirn Frankfurt gekippt. Erst im Zusammenklang hörbar machen die Arbeiten ganzen Sinn. Die Idee des Orchesters soll durch Algorithmen ins 21. Jahrhundert geholt werden.

Von Peter Backof | 19.06.2019
Ausstellungsraum in der Schirn
Klang und Kunst - Blick in die Ausstellung "Big Orchestra" in der Schirn (Marc Krause)
So klingt der "Onyx Music Table" von Doug Aitken, US-amerikanischer Multimedia-Künstler. Bei einem großen Esstisch ist die Tischplatte ersetzt durch Lamellen aus poliertem Onyx, ein fein marmorierter Stein. Gemeinsames Essen an einer Tafel macht Geräusche – Messer, Gabel und so weiter -, Doug Aitken ging es nochmal um eine Erweiterung des analogen Miteinanders zu Tisch: Als Spiel. Dieser Tisch ist auch: Musikinstrument.
Wie klingt der Tisch aus Onyx?
So wie alle Möbel, Installationen und Skulpturen von 16 Künstlerinnen und Künstlern in "Big Orchestra", der Sommer-Ausstellung in der Frankfurter Schirn. Auf dem "Onyx Music Table liegen" Xylophon-Klöppel und natürlich will man mal probieren, wie es klingt.. -, doch sofort wird die Ausstellungsaufsicht signalisieren: "Don't touch this! - Berühren verboten!"
Kurator Matthias Ulrich begründet das so: "Diese Objekte, die hier ausgestellt sind und wo dann Schlägel drauf liegen; vielleicht ist das schon zu viel des Angebotes, an Hinz und Kunz, wenn ich das so abschätzig sagen darf, auch mal draufzuhauen."
Keine Mitmach-Ausstellung
An den mit Saiten bespannten Sesseln von der türkischen Künstlerin Nevin Aladağ herum zu zupfen oder einem deformierten Stück Absperrzaun, das Guillermo Galindo von der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze nach Frankfurt transportiert hat, mit einem Vorschlaghammer den Rest zu geben - aber: Es ist keine Mitmach-Ausstellung.
Matthias Ulrich: "Dieser Begriff 'Partizipation' hat leider eine merkwürdige Karriere gemacht. Wenn man sich an Duchamps erinnert, der behauptet hat, dass der Betrachter, die Betrachterin, das Kunstwerk vervollständigt, dann ist da eine Aktivität angedeutet, die wichtig ist; weil ich kann ein Kunstwerk, nicht verstehen, wenn ich nicht eine Beziehung dazu aufgebaut habe. - Es zu berühren, handgreiflich zu werden, das ist so eine merkwürdige Konsequenz - niemand kommt auf die Idee, wenn ein Urinal von Duchamps ausgestellt ist in einem Museum, da rein zu pinkeln."
Politisch, physikalisch, philosophisch
Hans van Koolwijk: "I'm very disappointed about sound of visitors, how they do it. It doesn't work." Es käme nur dilettantische Ausprobiererei dabei heraus, ergänzt Hans van Koolwijk aus Amsterdam. Sein Objekt und Musikinstrument ist ein auf einen Anhänger montierter riesiger Resonanzkörper, mit Cello-Saiten, die, auf einen Teleskoparm gespannt, hervorragen. Wenn der Künstler auf die Anhängerkupplung tritt, krümmen sich Zeit und Raum.
Von der Bildenden Kunst her betrachtet, hat "Big Orchestra" reichlich Hintergrund: Politisch, physikalisch, philosophisch. Aber von der Musikseite her: Ist es nichts, bevor es nicht klingt. "Big Orchestra" entsteht während der dreimonatigen Laufzeit, mit wechselnden Konstellationen der Instrumente, die dann auch wirklich von Musikern gespielt werden, als sich ständig wandelnde und immer nur im Moment erfahrbare Performance. Diese Ausstellung ist ein Konzert.
Bindeglied zwischen visuell und akustisch
Und weil die Objekte für sich bis auf Konzertsituationen stumm bleiben, übernimmt der Frankfurter Komponist Orm Finnendahl eine Sonderrolle: Er ist als Interface oder Bindeglied zwischen das Visuelle und das Akustische geschaltet.
Orm Finnendahl: "Ich versuche es anschaulich zu machen: Am Freitag bin ich durch die ganze Ausstellung gegangen. Ich habe einen großen Sack mit Schlägeln mitgebracht, und Bögen und allem möglichen, wie man diese Instrumente anschlagen kann, und habe erstmal Klänge aufgenommen. Dann habe ich die Klänge alle isoliert, einzeln geschnitten. Und ich benutze aber Algorithmen, die das quasi automatisieren."
Gebaut wie aus Pixeln und Klangspuren
Orm Finnendahls Klang-Environment ist über Deckenlautsprecher zu hören. Teils die originalen Klänge der Objekte, teils mithilfe einer App generierte Spin-Offs mit ganz eigener Qualität. Das alles spielt sich ab, in der Schirn, unter einem Baldachin aus unzähligen Ohrstöpsel-förmigen weißen Schaumgummi-Teilen. Die sorgen, rein akustisch betrachtet, dafür, dass es im schlauchförmigen Saal nicht hallt.
Aber auch mehr: Der Raum bekommt durch sie eine digitale Ästhetik und wirkt wie gebaut aus Pixeln und Klangspuren. Nur Geräusch oder Musik? Das wird am Ende des jeweiligen "Big Orchestra"-Tages im Ohr des Hörers liegen; neugierig macht es auf jeden Fall!