Dienstag, 19. März 2024

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Bilanz der Filmfestspiele
Cannes in Zeiten von MeToo

"Cannes war Harvey Weinsteins Jagdrevier", sagte Asia Argento bei der Abschlussgala der 71. Filmfestspiele. Die italienische Schauspielerin forderte Konsequenzen für Fehlverhalten gegenüber Frauen. Die MeToo-Debatte hat das diesjährige Festival geprägt, findet Dlf-Filmkritikerin Maja Ellmenreich.

Maja Ellmenreich im Gespräch mit Katja Lückert | 20.05.2018
    Die italienische Schauspielerin Asia Argento bei ihrer flammenden Rede bei den 71. Filmfestspielen in Cannes
    Die italienische Schauspielerin Asia Argento bei ihrer flammenden Rede in Cannes (imago stock&people)
    Katja Lückert: Rund 43 Kinostunden, verteilt auf 21 Filme und 11 Tage. Das ist die numerische Bilanz des diesjährigen Wettbewerbs von Cannes. Gestern Abend ist die 71. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele zu Ende gegangen – mit einer feierlichen Gala und der traditionellen Palmenvergabe durch die amtierende Jurypräsidentin, die australische Schauspielerin Cate Blanchett. Die Goldene Palme also bekam der japanische Regisseur Hirokazu Kore-Eda für sein Sozialdrama über eine Familie am Rande der Gesellschaft.
    Goldene Palme ging zu Recht an Kore-Eda
    Maja Ellmenreich, frisch zurückgekehrt aus Cannes – eine Entscheidung der Jury, die Sie unterschreiben können?
    Maja Ellmenreich: Ja, voll und ganz. Dass "Shoplifters", zu Deutsch "Ladendiebe", von Kore-Eda den höchsten Preis bekommen hat, das finde ich eine gute Entscheidung. War auch mein Favorit in diesem – im Positiven wie im Negativen – sehr vielfältigen, sehr vielgestaltigen Cannes-Jahrgang. Es geht um eine ungewöhnliche Familie, die von den Mini-Jobs der Eltern allein nicht leben kann und sich den Rest, den sie braucht, zusammenklaut. So wie auch die Kinder geklaut sind, gekidnappt sind, weil die Eltern die Not der Kinder in ihren Ursprungsfamilien erkannt haben.
    Das sind also keine rücksichtslosen Gauner, sondern sehr gute Menschen mit großem Respekt füreinander. Ohne didaktisch oder besserwisserisch sein zu wollen, auch nicht kitschig, ist das ein Lehrfilm über das Miteinander jenseits der Norm. Die Jury hatte sich ja Allgemeingültigkeit von dem Film erhofft, den sie auszeichnen wollte. Und genau so einen allgemeingültigen Film haben sie gefunden. Da werden humanistische Fragen nach Zugehörigkeit und dem Wert einer Gemeinschaft gestellt, nach Eigentum und dem Nötigen, was wir eigentlich zum Leben brauchen. Fragen also, die auch in ferner Zukunft noch genau aktuell sein werden. Und ein Film, der auch in seiner Machart nicht zu veralten droht.
    Betroffenheitskino
    Lückert: Vielfältig, vielgestaltig sei der Wettbewerb gewesen, sagen Sie. Was hat Ihnen daran nicht gefallen?
    Ellmenreich: Die Festivalleitung hat die derzeitigen und überfälligen Rufe nach Gerechtigkeit, nach Gleichheit und Berücksichtigung aller Gruppen unserer Gesellschaft deutlich vernommen. Die Jury sah dementsprechend aus: mit fünf Frauen und vier Männern aus sieben Ländern von fünf Kontinenten.
    Aber so richtig ich diesen Diversitätsanspruch auch finde, so schwer habe ich mich doch mit einigen Filmen im Wettbewerb getan, die offensichtlich diese Diversität spiegeln sollten, insbesondere die Abgründe unserer Welt. Leprakranke in Ägypten, eine kirgisische Mutter in Moskau, der Überlebenskampf zweier Kinder in Beirut…Das ist schon eine Art von Betroffenheitskino, das wir da erleben mussten, das ich nicht gutheißen kann. Da wurde mir schon immer eine Meinung vorgegeben, ein Urteil vorweggenommen. Da hatte ich keine Freiheit mehr, mir eine eigene Meinung zu machen. Cate Blanchett hatte vor anderthalb Wochen gesagt, sie würden nicht den Friedensnobelpreis vergeben wollen, sondern eine "Palme d’Or". Aber ich finde, im Angebot, im Wettbewerb waren dann doch einige Filmkandidaten, die eher für einen Menschenrechtspreis in Frage gekommen wären als für einen Preis für die Filmkunst. Und die sind leider auch entsprechend ausgezeichnet worden von der Jury.
    Das "System Weinstein"
    Lückert: Welche Spuren hat denn die #MeToo-Debatte in Cannes sonst noch dieses Jahr hinterlassen?
    Ellmenreich: Ein paar sichtbare. Es gab ja die Demonstration von 82 Frauen auf der Treppe des Roten Teppichs, die sich dort ausgesprochen haben gegen jegliche Übergriffe und Unterdrückung, Diskriminierung und Degradierung.
    Aber auch gestern Abend bei der Preisvergabe, da hat die italienische Schauspielerin Asia Argento ein sehr persönliches und eindringliches Zeichen gesetzt. Sie klagte nämlich nochmal, wie sie es schon gegenüber dem Magazin "The New Yorker" getan hatte, die Taten des Harvey Weinstein an, der auch sie in Cannes vergewaltigt hat. Argento nennt das Festival in Cannes "Weinsteins Jagdrevier". Sie geht davon aus, dass er nie mehr dorthin zurückkehren wird und bei denen in Ungnade gefallen ist, die ihn zuvor selbst in Schutz genommen haben. Doch noch immer, auch an diesem Abend in diesem Saal, so Argento, säßen einige, die zur Rechenschaft gezogen werden müssen für ihr Fehlverhalten gegenüber Frauen. Wir lassen Euch nicht ungeschoren davonkommen!
    Von dieser Ansprache waren viele sehr überrascht gestern Abend. Und das zeigt eigentlich nur, wie sehr doch die tatsächlichen Übergriffe und Vergewaltigungen, die Enthüllungen der vergangenen Monate bei diesem Festival dann doch ein bisschen unter den Teppich gekehrt wurden. Das "System Weinstein", das kann man halt nicht nur abschaffen, indem man eine Person sozusagen aus der Welt schafft.
    Eine "Spezialpalme" für Godard
    Lückert: Zum ersten Mal in der Festivalgeschichte hat sich die Jury das Recht erbeten, eine "Spezialpalme" zu vergeben. Die ging an Jean-Luc Godard. Warum?
    Ellmenreich: Weil der 87-jährige Godard auch eine filmische Spezialkategorie bedient hat mit seinem Wettbewerbsfilm "Le livre d’images". Das ist ein Filmessay, der durch alle gängigen Genreraster fällt. Ein beeindruckender Film über das Sehen und das Lesen von Bildern, über Krieg und Gewalt. "Le livre d’images" hat alle im Publikum durcheinandergeschüttelt, sehr irritiert und zur Reflektion angeregt. Und wenn das der älteste Filmemacher im Wettbewerb schafft, dann ist ihm wirklich Außergewöhnliches gelungen. Nun hat er den Preis nicht für sein Alter bekommen, sondern für dieses Werk, vielleicht auch ein bisschen für sein Lebenswerk. Das finde ich eine gute Entscheidung der Jury, die ansonsten – bei den vielen weiteren Preisen – nicht mit allem richtig lag, wie ich fand.