Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Bilder einer Epoche

Gerhard Richters Gemälde der 60er-Jahre zeigen Momentaufnahmen aus der Wirklichkeit, die aber bewusst rätselhaft bleibt. Das Material stammt oft aus Bildreportagen über Hochstapler, Giftmörder oder Verkehrsunglücke. 50 Leihgaben aus 25 deutschen und internationalen Sammlungen sind jetzt in Hamburg zu sehen.

Von Rainer Berthold Schossig | 04.02.2011
    (In der Quantenphysik sind zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens, also etwa sein Ort und sein Impuls, nie gleichzeitig genau messbar. Dies besagt die berühmte "Heisenbergsche Unschärferelation". Und sie erklärt, dass diese Unschärfe nicht Folge unzulänglicher Messvorgänge, sondern prinzipieller Natur ist. Dies sich angesichts der unscharfen Bilder, die Gerhard Richter in den 60er Jahren malte, vor Augen zu halten, kann helfen. Gerade weil er seine Motive wie Sonden in eine heikle Vergangenheit, eine blinde Gegenwart hineinbohrte, mussten sie so unscharf sein, damit der Skandal ihres Zu-spät-Kommens, ihrer Vergeblichkeit spürbar wurde.) Die "Bilder dieser Epoche", die jetzt im Hamburger Bucerius Kunst Forum versammelt sind, gehören zu den wichtigsten aus dem magistralen Werk Gerhard Richters. Bilder, deren Themen und Motive der Künstler selbst immer heruntergespielt hat. Nun hat er dies im Gespräch mit Uwe M. Schneede, dem Gast-Kurator der Schau, dementiert:

    "Er hat sich in der frühen Zeit einfach abgrenzen wollen vom kritischen, vom sozialistischen Realismus, von überkommen Formen des normalen Realismus; er wollte seinen ganz eigenen Weg gehen. Von daher war es ihm wichtig, die Motive seien eigentlich belanglos, es ginge um die Malerei, die Thematisierung der Malerei. Und das ist dann übernommen worden, eine Deutungsblockade für lange Zeit."

    Das Fluidum der Fotos, die Richter in den 60er-Jahren - grau in Grau zermalt - einfängt, lässt interessanterweise beim Betrachter weniger Neugier oder Nostalgie als vielmehr ein Gefühl von Ohnmacht, ja Trauer aufkommen. Nicht weil die nette Sekretärin da ihren Chef dazu bewog, seine Gattin zu ermorden, oder weil jene platinblond aufgedonnerte Prostituierte wenig später Opfer eines Frauenmörders wurde. Auch nicht, weil der flotte Onkel Rudi, der da lachend mit seiner Wehrmachtsuniform posiert, bald darauf als gefallen wurde. All dies ist dem Personal der Bilder selbst gar nicht anzusehen, aber die Geschichten darum herum geben den Bildern den eigentümlichen Hintergrund. Es ist jener Zeitgeist, den die Mitscherlichs als "Unfähigkeit zu trauern" bezeichneten.

    "Wir fragen nun, was es mit diesen Motiven auf sich hat, und dabei stellt sich heraus, dass die Kriminalfälle, die Illusionen und Sehnsüchte der Wirtschaftswunderphase in den 60er Jahren, aber auch politische Ereignisse, aktuelle wie auch vergangene, in seinen Bildern eine ganz wichtige Rolle spielen; so wichtig, dass wir meinen, insgesamt ist dadurch entstanden auf eine ganz unwillkürliche Art und Weise - das Bild einer Epoche."

    Der in der NS-Zeit aufgewachsene, in der frühen DDR realsozialistisch geprägte und handwerklich solide ausgebildete Richter kehrte 1961 - kurz vor dem Mauerbau - dem Arbeiter- und Bauernstaat den Rücken. Er brachte seinen fremden Blick mit: auf die Bonner Puppenstuben-Republik und die "Wir-sind-wieder-wer!"-Rhetorik. Gerade sein unsystematisches Studium der Oberfläche, der Oberflächlichkeit der westdeutschen Wohlstandsrepublik lässt ihn fündig werden. Seine scheinbar beiläufige Bildausbeute trifft ins Herz der Verdrängungen, der Ängste und Träume. Er seziert die Befunde aus den hübschen, banalen Werbungs-Kontexten oder sensationslüsternen Illustrierten-Reportagen; so werden aus Illustrationen Diagnosen.

    Die knappe, aber qualitätvolle Auswahl aus jener Werkepoche, die Richter schnell berühmt machte, zeigt ihn als intelligenten Grenzgänger zwischen kritischer Aneignung sowohl von Einflüssen des Informel als auch der frühen amerikanischen Pop Art: Pollock und Lichtenstein, weniger Warhol waren Portalfiguren seines Durchstartens zum internationalen Spitzenkünstler. Typisch für Richter, dass er die Produktion seiner verwaschenen Grisaillen abbrach, als sie zum Markenzeichen wurden. Nur einmal noch kehrte er zum Prinzip der Foto-Vermalung zurück: als er 1988 das Trauma der RAF-Toten, des deutschen Herbstes in Stammheim verarbeitete, anhand kruder Pressefotos, die damals zum Teil noch gar nicht veröffentlich waren. Der Zyklus "18. Oktober 1977" - den das New Yorker Museum of Modern Art vor 15 Jahren erwarb, und der nun zum ersten Mal wieder nach Deutschland zurückkehrt, wirkt auch heute noch beklemmend und aufwühlend, wie eine forensische "Gegenüberstellung" mit den Protagonisten von einst. Und das Prinzip des Verwischens führt nicht zu Unschärfe, sondern zu größerer Schärfe; wie kommt das, Herr Schneede?

    "Wir kucken mit Distanz auf diese Ereignisse, aber eine Distanz, die in Bewegung bringt unsere eigenen Emotionen auch wirken zu lassen vor diesen Bildern, in denen es ja schließlich um Tode geht, Tode von Menschen, die auf dem Weg der Verblendung waren. Das ist es, was Richter als Thema daran interessiert hat."

    Die irrlichternde Gudrun Ensslin und die fast madonnenhaft wirkende Ulrike Meinhof, die Tatorte der Selbsthinrichtung von Baader und Raspe, die schemenhaft am Fensterkreuz baumelnde Gestalt der erhängten Terroristin in Stammheim - alles in eisig glitzernden Schwarz- und Grautönen gemalt - das macht frösteln und ruft die politische Kälte jener Zeit noch einmal in die Erinnerung zurück, mit einer Intensität, wie sie wohl nur ein so großer, ein so bescheidener Künstler, wie Gerhard Richter herstellen konnte.

    Gerhard Richter: "Bilder einer Epoche", zu sehen vom 5. Februar bis zum 15. Mai 2011 im Brucerius Kunst Forum in Hamburg.