Dienstag, 19. März 2024

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Bildungs-Experte zu Vielfalt im Klassenzimmer
Die Haltung muss sich ändern!

Vielfalt im Klassenzimmer verändere die Lehrerrolle "fundamental", sagte Dirk Zorn von der Bertelsmann Stiftung im Dlf. Lehrer bräuchten auf jeden Fall zusätzliche Kompetenzen. Das allein sei aber nicht die Lösung. Einen wichtigen Beitrag könnte unter anderem auch der schulische Ganztag leisten.

Dirk Zorn im Gespräch mit Stephanie Gebert | 22.06.2018
    Grundschüler und eine Lehrerin während einer Unterrichtsstunde in einem Klassenzimmer
    Migration, Inklusion, Konfusion? Vielfalt im Klassenzimmer stellt Pädagogen vor neue Herausforderungen (imago / Photothek)
    Stephanie Gebert: Vielfalt im Klassenzimmer ist kein neues Phänomen. Kinder sind schon immer mit unterschiedlichen Startbedingungen eingeschult worden, aber noch nie war diese Heterogenität so groß wie heute. Das hat der Bildungsbericht gezeigt. Die Kinder kommen aus Elternhäusern, die viel oder wenig Geld haben, in denen Deutsch gesprochen wird oder eine andere Muttersprache vorherrscht. Sie wurden schon in jungen Jahren viel gefördert oder hatten weniger Anregungen von außen, und es gibt Schüler mit Handicap und ganz bestimmtem Förderbedarf.
    Eine Riesenherausforderung für die Lehrer, da allen Kindern gerecht zu werden und sie optimal zu fördern. Das wollen wir besprechen mit Dirk Zorn, der bei der Bertelsmann Stiftung unter anderem das Projekt "In Vielfalt besser lernen" leitet. Ich grüße Sie!
    Dirk Zorn: Hallo!
    Gebert: Das hat natürlich alles Konsequenzen für den Unterricht, für die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer. An welchen Stellschrauben können die denn da drehen bei Klassenstärken zwischen 20 und 30 Kindern?
    Zorn: Das verändert in der Tat die Lehrerrolle fundamental. Zunächst brauchen Lehrkräfte eine andere Haltung. Sie müssen anders auf Kinder schauen, nicht mehr vom Mittelkopf, vom durchschnittlichen Lerner ausgehen, sondern den Blick auf jedes einzelne Kind und seine spezifischen Bedarfe lenken.
    "Lehrer brauchen zusätzliche Kompetenzen"
    Gebert: Und dann ist Gruppenarbeit eine Lösung, also die Kinder noch einmal, die Klasse noch einmal aufzuteilen?
    Zorn: Richtig. Die Lehrer brauchen auf jeden Fall zusätzliche Kompetenzen, sie müssen ihre Lehrerrolle erweitern. Frontalunterricht kann da auch weiterhin ein Aspekt bleiben, der zum Tragen kommt, aber viele andere Facetten des Lernens spielen dann eine stärkere Rolle, etwa die von Ihnen erwähnte Gruppenarbeit, also das Zusammenarbeiten von Schülern, wo Schüler gemeinsam für ihren Lernfortschritt Verantwortung übernehmen, das schülergesteuerte Lernen eines einzelnen Schülers oder auch Kleingruppenarbeit, wo Lehrkräfte mit kleineren Gruppen von Schülern Anleitungen geben oder neues Wissen vermitteln.
    Gebert: Also große Errungenschaft auch im aktuellen Bildungsbericht wird der Ganztagsausbau in den Grundschulen gepriesen. Welches Potenzial hat das aus Ihrer Sicht mit Blick auf die heterogene Schülerschaft?
    Zorn: Nach meiner Überzeugung ist der Ganztag hier so etwas wie die Bündelung all der Lösungen, die erforderlich sind, und bringt das wirklich auf den Punkt. Das ist die zentrale Rahmenbedingung, die wir brauchen für gutes Lernen in Vielfalt. Ganztag befördert, wenn er gut gemacht ist, eine Hinwendung zum einzelnen Kind. Denken Sie etwa an Lehrkräfte, die gemeinsam mit ihren Kindern auch Pausenzeiten verbringen, gemeinsam das Mittagessen einnehmen, ihre Schüler mal in einem bewertungsfreien Kontext ganz anders wahrnehmen können. Ganztag gewährleistet auch, dass der richtige Mix an Kompetenzen vorhanden ist in der Schule, dass neben Lehrkräften auch andere pädagogische Professionen erzieherische Arbeit und Unterstützung anbieten können für die Schüler, und eben auch bietet Ganztagsschule die Möglichkeit für zusätzliche Angebote etwa auch für Eltern. Denken Sie an Familienzentren, die integriert sind an Grundschulen in Brennpunkten und da die Möglichkeit bieten, auch die Eltern, die ja eine wichtige Rolle spielen für das Lernen von Kindern, auch über Angebote zu erreichen.
    "Sehr genau hinschauen, wo man Quereinsteiger einsetzt"
    Gebert: Jetzt habe ich mir ganz zu Beginn Ihrer Antwort gemerkt, wenn dieser Ganztag gut gemacht ist. Jetzt haben wir aber überall in Deutschland Personalnot, und es gibt die Idee von den Bundesländern, mit Quereinsteigern zu reagieren, die ja teilweise nicht unbedingt genügend pädagogisches Wissen, jedenfalls zu Beginn, mitbringen. Was ist davon zu halten?
    Zorn: Meine Gespräche mit Schulleitungen zeigen, dass das durchaus auch als Potenzial gesehen wird, dass viele Schulleitungen sehr wertschätzend berichten von dem, was Quereinsteiger, die im Durchschnitt älter sind und auch schon mal andere Berufe ausgeübt haben, mitbringen. Das wird als wertvoll erachtet. Es kommt dabei auf die Rahmenbedingungen an. Es ist gerade wichtig, dass Quereinsteiger vielleicht bevorzugt an gebundenen Ganztagsschulen eingesetzt werden, wo sie dann stärker die Möglichkeit haben, im Team zu unterrichten und sich pädagogische Kniffe abzuschauen von erfahrenen Lehrkräften. Deshalb wäre mein Rat hier an die Bildungsverwaltung, sehr genau hinzuschauen, wo man diese Quereinsteiger einsetzt und wie man Rahmenbedingungen schafft, dass sie das, was sie zu Beginn ihrer Lehrtätigkeit noch nicht können, dann auch gut berufsbegleitend erlernen können.
    "Lehrkräfte werden überwiegend immer noch so ausgebildet, als würden sie künftig an Halbtagsschulen unterrichten"
    Gebert: Jetzt haben wir über viele Kompetenzen gesprochen, die die Lehrer mitbringen müssen, um das zu bewältigen und auch die Vielfalt vernünftig im Unterricht zu gestalten. Wenn wir daran denken und Sie an die Ausbildung der Pädagogen bei uns in Deutschland denken, werden die mit genügend Know-how, mit genügend Rüstzeug ausgestattet, um all das zu leisten?
    Zorn: Hier gibt es in der Tat noch erhebliches Potenzial nach oben, gerade auch in der ersten Phase der Lehrerausbildung schon. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern und auch den einzelnen Hochschulen sind hier doch eklatant, was etwa die systematische Integration sonderpädagogischer Kompetenzen in das reguläre Lehramtsstudium angeht, so wie Berlin das etwa seit einigen Jahren betreibt. Hier ist es dringend erforderlich, Lehrkräfte aller Schularten auf einen individuell fördernden Unterricht entsprechend vorzubereiten, ihnen dieses Rüstzeug zu vermitteln und sie auch vorzubereiten auf eine Arbeit in einer Ganztagsschule. Lehrkräfte werden überwiegend immer noch so ausgebildet, als würden sie künftig an Halbtagsschulen unterrichten, wobei wir doch wissen, dass der Trend zum Ausbau von Ganztagsschulen ungebrochen ist und wahrscheinlich durch den angekündigten Rechtsanspruch, den die Bundesregierung umsetzen will, eher noch an Dynamik gewinnen dürfte.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.