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Bildungschancen
"Wir können nicht zufrieden sein"

Es sei die "Achillesferse des deutschen Schulsystems, dass der Aufstieg durch Bildung immer noch zu stark von der sozialen Herkunft" abhänge, sagte NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann im DLF. Das Thema bleibe auf der Tagesordnung, betonte die scheidende Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die ihr Amt nun an Brunhild Kurth übergibt.

Sylvia Löhrmann im Gespräch mit Benedikt Schulz | 11.12.2014
    NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann im Landtag.
    NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann. (picture alliance / dpa / Federico Gambarini)
    Benedikt Schulz: Mitgehört hat Sylvia Löhrmann, Schulministerin von Nordrhein-Westfalen und Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die heute in Berlin tagt, zum letzten Mal unter ihrer Leitung. Frau Löhrmann, hallo!
    Sylvia Löhrmann: Ja, guten Tag, Herr Schulz.
    Schulz: Vor einem knappen Jahr, als Sie die Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz übernommen haben, da haben Sie damals hier bei uns gesagt, im Deutschlandfunk, Ihnen ist es wichtig, dass alles Schülerinnen und Schüler in Deutschland die gleichen Chancen haben. Wenn Sie jetzt die aktuellen Zahlen aus dem Chancenspiegel sehen, können Sie da zufrieden sein am Ende Ihrer Amtszeit?
    Löhrmann: Nein, natürlich können wir nicht zufrieden sein, und das wissen wir auch, alle Ministerinnen und Minister. Wir wissen aber auch, dass wir besser geworden sind in den letzten Jahren, und zwar, über den Zeitraum von zehn Jahren betrachtet, hat Deutschland in allen Bereichen, die die PISA-Studie erfasst, aufgeholt und liegt jetzt über dem Durchschnitt, was die Leistungen angeht. Aber diese Achillesferse des deutschen Schulsystems, dass der Aufstieg durch Bildung immer noch zu stark von der sozialen Herkunft abhängt, das bleibt auf der Tagesordnung. Das muss auch auf der Tagesordnung bleiben. Das ist nichts, wo Sie in einem Jahr sozusagen die Früchte schon ernten können, sondern da müssen wir die Dinge länger in den Blick nehmen und müssen weitermachen und durchhalten und dürfen nicht nachlassen.
    "Wir müssen weiter besser werden in der Spitze und in der Breite"
    Sie haben in dem Beitrag einen Punkt angesprochen, und den halte ich persönlich auch für zentral: Das ist der Ganztagsausbau. Weil wir, wie der Schulleiter das gesagt hat, mit mehr Zeit individuellere Fördermöglichkeiten haben sowohl für leistungsschwächere, aber auch für leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler, weil klar ist, wir müssen weiter besser werden in der Spitze und in der Breite.
    Schulz: Ja. Warum kommt dann der Ganztagsschulausbau nicht richtig voran, wenn das ja gerade besonders geeignet ist, um die sozialen Unterschiede auszugleichen. Warum gibt es da nur so kleine Fortschritte?
    Löhrmann: Es gibt stetige Fortschritte. Für Nordrhein-Westfalen kann ich in dem Fall sagen, da liegen wir leicht über dem Durchschnitt. Und wenn Sie sich anschauen, dass in den letzten drei Jahren meiner Amtszeit in Nordrhein-Westfalen über 200 Schulen des längeren gemeinsamen Lernens gegründet worden sind, die alle gebundene Ganztagsschulen sind, dann sehen Sie, dass hier systematisch angesetzt wird. Aber natürlich müssen die Jugendlichen jetzt auch erst mal durch diese Schulen dann ja einmal durchlaufen. Die Schulen sind ja jetzt frühestens im dritten Jahr und manche erst im zweiten oder im ersten Jahr. Und man jetzt nicht diese Bestandsaufnahme gleichsetzen kann mit den Ergebnissen dieser systematisch angelegten Bildungspolitik.
    Schulz: Ja. Also Leistung, die man sicherlich nicht schmälern möchte. Aber wenn man mal die Zahlen betrachtet, 32,3 Prozent, um genau zu sein, der Schüler in Deutschland besuchen eine Schule mit Nachmittagsangeboten - wir reden ja nur darüber -, aber der Bedarf liegt bei etwa 70 Prozent. Das ist doch noch eine kolossale Differenz.
    Löhrmann: Ja, wobei es auch und gerade - ich habe gerade die Diskussion G8/G9. Da gab es nun Eltern, die gesagt haben, wir möchten nicht so viel Ganztag haben. Sportvereine, Kulturvereine und Verbände sagen ja auch, es muss auch Lernen außerhalb der Schule möglich sein, es muss auch eine Abgrenzung geben zwischen Schulzeit und Freizeit. Also, da sind die Rückmeldungen auch unterschiedlich.
    Aber ganz klar ist, dass wir strukturell systematisch in Nordrhein-Westfalen den Ganztag ausbauen. Da sind die Früchte ja zum Teil auch sichtbar. Wir liegen in Nordrhein-Westfalen, was die Quote derer, die Abschlüsse erreichen, angeht, ganz gut, sowohl bei mittleren Bildungsabschlüssen als auch bei der Quote derer, die das Abitur erreichen. Und das führe ich zurück darauf, dass wir eben nach der Klasse vier Angebote des längeren gemeinsamen Lernens haben und nicht diese Schicksalsentscheidung nach der Klasse vier greift, dass man nicht mehr Durchlässigkeit nach oben hat. Und das finde ich doch ganz zuversichtlich. Wir sind noch nicht am Ziel, aber das sind auch Rückmeldungen, die zeigen, wir sind auf dem richtigen Weg.
    Schulz: Sie sprechen jetzt die Situation in Nordrhein-Westfalen an. Ein Ergebnis des aktuellen Chancenspiegels ist aber, dass nicht nur die Situation sich zwischen den Bundeländern unterscheidet, sondern auch innerhalb der Länder ganz groß unterscheidet. Was läuft denn da schief? Warum sind die Unterschiede auch regional oder kommunal so groß?
    Löhrmann: Das ist sehr interessant, dass die Untersuchung das in den Blick nimmt. Das ist nämlich auch eine Diskussion, an der die Kultusministerkonferenz auch arbeitet: Welche Entwicklungen in bestimmten Regionen sind auf welche politischen Entscheidungen zurückzuführen? Und da ist durchaus ein differenzierter Blick geboten. Etwa bei der Feststellung von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf. Da haben wir in Nordrhein-Westfalen - da weiß ich es natürlich immer am genauesten - Regionen, die sozialstrukturell vergleichbar sind, und trotzdem wird in der einen Region - ich greife jetzt die Zahl vier Prozent - sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf festgestellt, und in einer anderen Region zehn Prozent. Dann fragt man sich ja, wird da von der Steuerung her, läuft da was schief? Und das muss man genauer herausfinden, weil die Ergebnisse auch in dem Chancenspiegel nicht eindeutig sind. Es gibt Trends, aber es gibt auch immer Gegenbeweise für diese Trends.
    Und daran hat die Kultusministerkonferenz ein großes Interesse, um eben rauszufinden, was verändert denn das Lernen wirklich? Gibt es möglicherweise Fehlanreize, dass das Etikett für ein Kind - sonderpädagogischer Förderbedarf -, wenn es das Etikett hat, dass es dann mehr Geld gibt, dass deswegen vielleicht mehr etikettiert wird in einer Region. Also ganz, ganz spannende Fragen, und nicht mal eben so ein Ergebnis, wo man sagen kann, das ist so eindeutig, und das kann jetzt richtigerweise daraus folgen, oder das muss daraus folgen.
    Bildung als Gemeinschaftsaufgabe
    Schulz: Gehen wir mal auf die ganz große Ebene. Ende der kommenden Woche wird ja der Bundesrat aller Voraussicht nach das Ende des Kooperationsverbots beschließen. Das heißt, der Bund darf sich in Zukunft in der Bildung finanziell engagieren, aber nur für den Hochschulbereich, nichts mit Schulen und Kitas. Sind Sie da enttäuscht, dass es da nur zu dieser kleinen Lösung gereicht hat.
    Löhrmann: Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass der Bund hier diesen Fehler der Großen Koalition korrigiert und die Große Koalition das auch vorsieht. Wir haben uns dazu positioniert im Bund, wir werden natürlich nicht die Hochschulen in Geiselhaft nehmen und sagen, nur weil ihr jetzt nur dabei seid und mehr Geld bekommen könnt, verwehren wir das.
    Aber es muss auf der Tagesordnung bleiben, dass die sozialpolitische Dimension von Bildung, und die ist beim Ganztag gegeben, die ist bei der Inklusion gegeben, dass da der Bund in der Verantwortung ist. Und das werden wir auch einfordern unterhalb einer Verfassungsänderung, weil der Bund die Sozialgesetze macht, der Bund beim Übergang Schule/Beruf Interessen hat, und da muss der Bund die Länder und die Kommunen weiterhin stärker unterstützen.
    Schulz: Verstehe ich Sie richtig? Sie fordern vom Bund Geld für die Schulen und für die Kitas, jetzt zum Beispiel für die Inklusion, für den Ganztagsschulausbau, ohne dass Sie das Grundgesetz noch mal ändern wollen. Wie soll das funktionieren?
    Löhrmann: Indem wir multiprofessionelle Teams klar haben. Wir brauchen heute in Schulen nicht mehr nur Lehrerinnen und Lehrer, sondern wir brauchen Assistenzpersonal, das ist auch im Sozialgesetz des Bundes ja vorgegeben, dass ein Kind mit Unterstützungsbedarf von den Kommunen als Sozialhilfeträger und Jugendhilfeträger einen Assistenten bekommen soll. Und die Kommunen müssen es bezahlen, obwohl es der Bund gesetzlich beschlossen hat.
    An dieser Stelle wollen die Länder erreichen, dass hier die Gemeinschaftsaufgabe Bildung über den gesamten Bildungsweg, von der Kita über Schule, Hochschule hin zur Weiterbildung von Bund, Ländern und Gemeinden gemeinsam gestemmt wird und nicht den Hauptbeitrag die Länder leisten müssen.
    Schulsozialarbeit vom Bund finanzieren
    Schulz: Sie reden davon, dass Schulsozialarbeit vom Bund bezahlt werden soll. Halten Sie das für realistisch, dass der Bund das auch so sieht?
    Löhrmann: Der Bund hat es ja immerhin einige Jahre im Zusammenhang mit dem Bildungs- und Teilhabepaket finanziert, und zwar nicht das Haus von Frau Wanka oder von Frau Schavan, sondern aus dem Etat von Frau Nahles. Damit hat der Bund ja anerkannt, dass es eine sozialpolitische Leistung ist und keine Lernfrage im engeren Sinne berührt ist. Wir haben gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden festgehalten, dass hier wir den Druck auf den Bund weiter machen wollen, und erfreulicherweise steht auch im Koalitionsvertrag von Sachsen, wo ja ein CDU-Ministerpräsident das Land führt, steht das auch drin, dass dort SPD und CDU gemeinsam beim Bund eintreten wollen, dass die Schulsozialarbeit vom Bund finanziert wird. Also Mitstreiter über Parteigrenzen hinweg.
    Schulz: Ich habe das am Anfang erwähnt, dass ist heute Ihre letzte Sitzung als Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Letzte Frage: Welche Aufgaben wollen Sie Ihrer Nachfolgerin Brunhild Kurth ins Hausaufgabenheft schreiben?
    Löhrmann: Wir arbeiten sehr, sehr kollegial, und zwar meine Vorgänger wie auch Frau Kurth als Nachfolgerin. Bildung muss ja nachhaltig angelegt sein, und deswegen geht es nicht drum, dass ein Präsident oder eine Präsidentin sagt, das ist jetzt dieses Jahr ganz wichtig, und im nächsten Jahr ist das nicht mehr wichtig. Sondern bei der Frage der Inklusion in der Lehrerbildung geht das über mehrere Etappen. Beim Thema Erinnerungskultur, wo wir heute Empfehlungen verabschieden werden, da auf jeden Fall weiter arbeiten wollen. Insofern Kontinuität und besondere Akzente. Die Frage der Bildungsgerechtigkeit bleibt auf der Tagesordnung.
    Schulz: Sylvia Löhrmann war das, Schulministerin von Nordrhein-Westfalen und noch Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Herzlichen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.