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Bildungsdebatte
"Viele Eltern versuchen auch, Dinge abzuwälzen"

Gedichtanlyse in vier Sprachen, aber keine Ahnung von Steuern: Der Tweet einer 18-jährigen Abiturientin befeuert die Debatte zu Sinn und Unsinn vieler Lehrplaninhalte. Tom Beyer von der Bundesschülerkonferenz fordert im DLF von den Schulen, "mehr Kompetenzen zu vermitteln." Allerdings sieht er auch Eltern in der Pflicht.

Tom Beyer im Gespräch mit Jörg Biesler | 15.01.2015
    Schüler lernen im Geschichtsunterricht an einer Hauptschule in Arnsberg (Sauerland).
    Gedichtanalyse oder eine Einführung in das Mietwesen? Letzteres könnten auch Eltern erklären, findet Tom Beyer. (dpa / picture alliance / Fabian Stratenschulte)
    Jörg Biesler: "Ich bin fast 18 und habe keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann eine Gedichtanalyse schreiben, in vier Sprachen." Das twitterte vor ein paar Tagen eine Abiturientin aus Köln. Inzwischen ist diese Nachricht tausendfach weitergeleitet worden und von Zeitungen und Internetmedien veröffentlicht und kommentiert. Die beiden Sätze treffen offenbar einen Nerv. Es scheint Tausende zu geben, die sich ähnlich fühlen. "Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir", das scheinen viele Schüler zu meinen. Tom Beyer ist Mitglied der Bundesschülerkonferenz. Guten Tag, Herr Beyer!
    Tom Beyer: Guten Tag!
    Biesler: Über den Tweet und seine große Resonanz, wird da auch bei Ihnen in der Bundesschülerkonferenz diskutiert?
    Beyer: Ja, also wir haben auch schon darüber geredet beziehungsweise ist das Thema immer wieder bei uns auf der Tagesordnung, wenn wir uns treffen. Aber das wird sehr differenziert betrachtet. Ich kenne auch das Gefühl aus der Schule beziehungsweise besonders von meinen Mitschülern, die meinen, ja, wozu schreibe ich unendliche Aufsätze? Ich weiß gerade nicht, wie ich eine Steuererklärung mache. Und ähnlich geht es uns dann auch immer bei den Diskussionen, wobei es dann auch darum geht, dass man sagen muss, zum Beispiel eine Gedichtanalyse vermittelt einem auch vielfältige Kenntnisse: Wie kann ich mich zu einem komplexen Thema sehr direkt äußern? Wie kann ich meine Gedanken, die relativ kompliziert sind klar ausdrücken, sodass ich sie ganz klar formulieren kann, dass das auch jeder andere versteht. Und das sind ja Kompetenzen, die werden auch dort vermittelt, gerade bei solchen Aufgaben. Das sind Schreibkompetenzen, die ja heute immer wieder wichtig sind, besonders dann auch später im Job. Wenn man sich zu komplizierten Sachverhalten äußern muss, braucht man gerade auch diese Fähigkeiten.
    Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.— Naina (@nainablabla) 10. Januar 2015
    "Mehr Kompetenzwissen"
    Biesler: Jetzt beklagt sich diese Schülerin ja darüber, dass sie sich nicht so ausreichend vorbereitet fühlt auf das Arbeitsleben. Es kommt noch in einem zweiten Tweet das Thema Krankenversicherung, Kindergeld. Sie könne Kaution und Provision bei Mietwohnungen dann nicht unterscheiden. Ist so was Lebenspraktisches denn jetzt darüber hinaus, dass Sie ja gesagt haben, wir brauchen auch die Gedichtanalysen – ist so was Lebenspraktisches vielleicht zu wenig Thema in der Schule?
    Beyer: Ich denke, darüber lässt sich auf jeden Fall streiten. Wir müssen sicherlich darüber nachdenken, mehr Kompetenzwissen hereinzuholen. Ich kann mich dazu ja auch belesen. In der Bibliothek gibt es unendlich viele Ratgeber. Ich kann dazu auch im Internet googeln und mich informieren. Dazu muss ich aber wissen, wie diese Möglichkeiten funktionieren quasi, mich auch gezielt zu Themen zu informieren. Und das ist sicherlich eine Herausforderung, auf die uns dieser Tweet stößt, zu sagen: Ja, wir sollten mehr darüber nachdenken, vom Faktenwissen wegzugehen und mehr Kompetenzen zu vermitteln. Und gerade, wenn man über so was aber spricht – jetzt kam auch oft die Forderung auf, ja, mehr Wirtschaft in den Unterricht und so weiter. Das kann ich ein Stück weit verstehen, aber man muss dann aufpassen, von wem sind die Interessen getragen. So was wird natürlich auch gepusht von gewissen Seiten, solche Dinge mehr im Unterricht einzubringen, und da muss man natürlich auch dazu sagen, dass man ja nicht nur in die Schule geht, um später ein guter Arbeitnehmer zu sein oder ein gutes Geschäft zu machen - das ist sicherlich auch wichtig - aber man geht ja auch in die Schule, um sich vielfältig zu bilden und fortzubilden und zu informieren. Und wenn ich ein Gedicht analysiere, um noch mal bei dem Beispiel zu bleiben, da geht es ja auch oft um sehr komplizierte und wichtige Themen: der moderne Mensch in der Stadt und so weiter, wenn man Rilke nimmt und so weiter.
    Erklären, wo das Wissen herkommt
    Biesler: Es gibt Reaktionen von Schülern, die Rektorin der Schule zum Beispiel, der Kölner Schule, auf der die twitternde Schülerin gerade ihr Abitur macht, die fand die Äußerung "dumm und fahrlässig". Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes hat gesagt, solche Sachen lerne man im Leben, nicht in der Schule. Wo ist denn die Grenze zwischen dem, was allgemeine Bildung ist, wie Sie es jetzt auch gerade beschrieben haben, wo man bestimmte Fähigkeiten in der Schule erwirbt, und dem, was die Schule dann wirklich nicht mehr leisten kann, was das Elternhaus oder meinetwegen das Internet, ein Lexikon oder irgendein Buch leisten muss?
    Beyer: Also, hier gerade in Sachsen steht eine Schulgesetznovellierung an, und da gibt es jetzt schon die Diskussion darüber, wie weit soll der Erziehungsauftrag der Schule gehen, oder wie weit ist der Auftrag der Schule überhaupt, auch in Lerninhalten, wenn wir zum Beispiel ein anderes Thema nehmen wie sexuelle Aufklärung – war ja auch ganz groß in Baden-Württemberg. Und ich denke, das ist ganz ähnlich gelagert. Viele Eltern versuchen heute auch, Dinge abzuwälzen auf die Schule, weil sie sagen, dort sitzen die pädagogischen Experten, die sollen das mal für mich regeln. Und vernachlässigen dabei ihre eigenen Aufgaben gegenüber dem Kind. Ich glaube, die Schule sollte gerade bei solchen Behördensachen, Steuererklärung – kann man durchaus mal erklären, wo man sich mal herholen kann seriöse Information, wie so was überhaupt funktioniert. Zum Beispiel habe ich einen Bekannten, der hat ein kleines Gewerbe gegründet, weil er Musik macht. Und er wusste das vorher auch nicht, wie man eine Steuererklärung macht. Der hat sich das aber selber beigebracht und hat halt offensichtlich in seinen 18 Jahren Leben gelernt, wie man sich darüber informiert, so was zu machen. Aber ich glaube, dass auch nicht jeder Arbeitnehmer in seinem erwachsenen Leben schon eine Steuererklärung machen kann.
    Kontinuität statt Aktionismus
    Biesler: Das ist wahrscheinlich. Jetzt ist es aber ja so, dass dieser Tweet hier 25.000 Mal bis heute als Favorit genannt wurde, und ungefähr 15.000 Mal weitergeleitet wurde an andere Adressen. Also, das ist ein echtes Thema.
    Beyer: Ja, ich denke auch, dass das ein Thema ist, wenn man in die Schulen geht, aber das war sicherlich ein Thema, seitdem es öffentliche Schulen gibt oder ein Bildungssystem, das wirklich jeden erfassen will in Deutschland. Und seitdem, denke ich, wird darüber diskutiert, ob das lebensnah ist, was unterrichtet wird. Und dieser Diskussion muss man sich auch immer stellen. Weil, wenn wir zum Beispiel sagen, in unserer schnelllebigen Zeit, wir passen die Bildungsinhalte immer wieder an, dann stehen wir ganz schnell vor der Herausforderung, uns alle zwei, drei Jahre oder noch schneller anzupassen. Und das macht das System nicht mit. Das ist wirklich eine ganz schwierige Kiste, dort aufzupassen, dass man nicht dann in so einen blinden Aktionismus verfällt und andauernd versucht, Kontinuität zu zerbrechen und alle Nase lang neue Lehrpläne zu machen.
    Biesler: Sagt Tom Beyer, Mitglied der Bundesschülerkonferenz und zu Hause im Landesschülerrat in Sachsen. Danke schön!
    Beyer: Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.