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Bildungskonzept Inklusion

Die inklusive Pädagogik. Sie versteht sich als Weiterentwicklung der integrativen Pädagogik und will die einzelnen Schüler individueller fördern und die Schulen entsprechend anpassen. Am Wochenende gab es in Berlin eine Fachtagung zum Konzept der Inklusion. Initiator war die Projektgruppe Kinderwelten.

Von Barbara Leitner | 17.06.2010
    Im Spiel erfahren viele Kinder zum ersten Mal, dass sie ausgegrenzt werden.

    "Die Figur spielt immer eine Rolle, die Kleidung auch und durch Kinderwelten ist es wirklich weniger geworden, weil wir aufmerksamer geworden sind und gesagt haben, Mensch an der Stelle, guckt doch mal, sieht einfach anders aus, was ist bei dir besonders und den Fokus noch mal auf andere Äußerlichkeiten gelenkt haben, Augenfarbe, Größe und die Kinder gelernt haben, sich so zu unterscheiden. Nicht zu sagen, da kommt der Dicke sowieso, sondern Stefan, der sehr schön malen kann oder turnt, also Fähigkeiten, unterstrichen, haben und Stärken."

    Die Erzieherin Katja Borchers aus einer Kita der Arbeiterwohlfahrt in Hannover. Ihre Kita nahm als eine von 100 Kindergärten, Schulen und Fachschulen aus acht Bundesländern am Projekt "Kinderwelten" teil. Über zehn Jahre erforschten Pädagogen in Theorie und Praxis, wie sie Kinder mit einer Sensibilität für Vorurteile bilden und erziehen und vermeiden, dass diese Andere aussortieren. Denn Vorurteile – so der Ausgangspunkt des Projektes – entwickeln Kinder bereits mit vier, fünf Jahren. Louise Derman-Sparks, emeritierte Professorin vom Pacific Oaks College in Pasadena, Kalifornien.

    "Sie versuchen zu dieser Zeit herauszufinden, was die Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen bedeuten. Zum Beispiel ist es in den ABC-Büchern in den USA üblich, für das I einen Indianer zu zeigen und das ist ein sehr einseitiges Bild über die amerikanischen Ureinwohner. Kinder saugen das auf und denken, das ist das wirkliche Bild. Andere Vorurteile werden durch viele indirekte Botschaften von Erwachsenen gelernt, die denken, etwas sei nicht wichtig zu wissen oder es sei unhöflich, Fragen über Unterschiede zu stellen. Vorurteile entstehen auch, wenn Kinder etwas nicht sehen, und dann entdecken sie jemand, der ganz anders ist und meinen, der sieht aber komisch aus, weil sie nie zuvor so jemand wahrgenommen haben."

    Nach dem Verständnis der Entwicklungspsychologin entwickeln die Kinder durch das Beobachten von Unterschieden ihre eigene soziale Identität und beginnen auch Ideen und Gefühle über die Identität andere herausbilden. Nach und nach verstehen sie etwas über ihre Hautfarbe, ihre Herkunft, ihr Geschlecht, die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die sozialökonomische Zugehörigkeit und Familienstrukturen. Wie in einem Kaleidoskop verändert sich das Muster dieser Identitäten unentwegt und bei verschiedenen Kindern entstehen unterschiedliche Bilder. Dennoch haben sie auch gleiche Glassteine dafür, wer sie sind, in ihrem Kaleidoskop. Diese Einsicht hält Louise Derman-Sparks für eine Pädagogik der Vielfalt für grundlegend. Die verschiedenen Aspekte einer sozialen Identität sollten vereint und nicht getrennt behandelt werden. Noch ist Trennung übliche Praxis. Unter dem Stichwort "besondere Bedürfnisse" gibt es Förderangebote für Behinderte, Migranten, Jungen, ADS-Kinder und so weiter und so fort.

    "Wenn man genau hinschaut, wird der Begriff "besondere Bedürfnisse" missbraucht. Er wird immer benutzt, um zu sagen, dieses Kind oder diese Gruppe von Kindern sind weniger wert als die Normalen, als die andere Gruppe von Kindern."

    Tony Booth, Professor für Inklusive und Internationale Pädagogik an der Universität Canterbury, Großbritannien. Er kritisiert die übliche Integrationspädagogik, die pädagogische Probleme als Folge von Beeinträchtigungen oder Defiziten von Kindern und Jugendlichen sieht. Damit werden die Mängel in den Beziehungsverhältnissen, Lehrplänen und Lernansätzen verschwiegen und es wird nicht wahrgenommen, wie verschieden Kinder sind. Die Beobachtung beispielsweise, dass mehr Jungen als Mädchen mit der Schule nicht zurechtkommen, verlangt zu überprüfen, wie Erziehung und Bildung auf Männlichkeit und Weiblichkeit antworten, statt sie nur als Loser abzuschreiben. Das bedeutet Inklusion, meint Booth. Der Begriff geht davon aus, dass es nicht genügt, Kinder in ein System hinein zu nehmen, zu integrieren. Auch Systeme müssen sich verändern, damit kein Kind ausgesondert wird. Genau das wurde in dem Projekt Kinderwelt mit dem Anti-Bias-Ansatz erprobt. Louise Derman-Sparks gehörte zu denen, die ihn begründeten.

    "Eines, was wir machen: sicherzustellen, dass jedes Kind sichtbar ist. Als Zweites versuchen wir herauszufinden, was Kinder über ihre eigene Hautfarbe denken, die der anderen, ihre Sprache, wie sie oder andere angezogen sind. Ob sie, wenn sie jemand in einem Rollstuhl sehen, sich vorstellen könnten, die Person könnte Mutter oder Vater sein. Und wenn Kinder mit falschen Informationen kommen, mit Unsicherheiten, Ängstlichkeiten oder so etwas wie Vor-Vorurteile, dann denken wir über Möglichkeiten nach, wodurch sie zu anderen Einsichten kommen können. Wenn sie sagen, Leute im Rollstuhl können nicht Mutter oder Vater sein, dann geben wir ihnen Bücher, die ihnen zeigen, dass sie es doch sein können. Oder wir laden Menschen aus einer Selbsthilfegruppe Behinderter in die Einrichtung ein, um mit den Kindern zusammen sein."

    Von klein auf werden Kinder in die Lage versetzt, ihre eigenen Potenziale zu entfalten und gleichzeitig aktiv zu werden, wo immer sie oder andere daran gehindert und diskriminiert werden – ein Herangehen, wie es den UN-Menschen- und Kinderrechten entspricht.

    "Die Erzieherinnen sehen deutlich, dass Kinder sich mehr beteiligen, dass sie aktiver werden. Dass diese These stimmt, Kinder so in ihren Identitäten zu bestärken, sie in ihren Wurzeln zu bekräftigen dazu führt, dass sie sich mehr auf die Bildungsprozesse einlassen können in der Kita. Also das geht auf."

    So die Bilanz von Projektleiterin Petra Wagner nach zehn Jahren Arbeit von Kinderwelten. In Kindergärten sorgten Erzieherinnen beispielsweise dafür, dass auf den Bildern in den Räumen und Büchern sich auch Kinder mit arabischer, afrikanischer oder asiatischer Herkunft wieder finden oder die verschiedenen Lebensformen von Familien thematisiert werden. Scheinbar kleine Schritte. Sie aber sind nur möglich, wenn Pädagogen eine andere Haltung beziehen.

    "Sich selber zu reflektieren, zu gucken, wo habe ich selber meine blinden Flecken, wo nehme ich überhaupt nicht wahr, dass jemand in diesem Raum, in diesem Team nie zu Wort kommt. Ich kenne das so von Anfang an, dass mir immer zugehört wurde, diese Sachen zu reflektieren, das ist die Hauptarbeit mit den Erwachsenen."

    "Das habe ich bei mir extrem festgestellt. Man glaubt ja, als Erzieherin ist man sozial verträglich und ganz vorurteilsfrei und plötzlich fällt einem auf, dass das nicht stimmt. Das wird ganz deutlich in der Elternarbeit, dass man manche Eltern häufiger angesprochen hat, andere weniger, dass man bestimmte Eltern hatte, mit denen man sich besser identifizieren konnte als mit anderen und bei anderen Eltern zurückhaltender war oder zurückhaltende Eltern auch zurückhaltend gelassen hat, zu sagen, die wollen keinen Kontakt - und gelassen hat. Und Kinderwelten schon dazu geführt hat, warum beachte ich diese Eltern weniger. Ist das mein Weltbild? Was bremst auch Eltern aus, mich anzusprechen? Gibt es sprachliche Barrieren? Gibt es kulturelle Barrieren, strahle ich etwas aus, was ich gar nicht möchte und das ist für uns Erzieherinnen ein ganz bedeutsamer Prozess gewesen."

    Dafür wurden die Pädagogen fortgebildet und entsprechende Lehrmaterialien konzipiert. Die müssen nun in die Aus- und Weiterbildung einfließen und die Einrichtungen sollten ihre Kultur verändern, wünscht Petra Wagner. Erst dadurch kann dieser Ansatz für mehr Bildungsgerechtigkeit nachhaltig umgesetzt werden. Zugleich aber verlangt eine bewusst inklusive Bildung auch neue Inhalte in den Lehrplänen, ist Tony Booth überzeugt.

    "Heute unterrichten wir Kinder in einer Art und Weise, die ihnen nur sehr wenig zu verstehen hilft, wie die Gesellschaft funktioniert. Dadurch verhindern wir, dass Menschen eine Wahl haben, weil sie keine Ahnung haben, auf welcher Grundlage sie diese Wahl treffen könnten. Wenn ich in ein Geschäft gehe und Nahrungsmittel kaufe und ich nicht weiß, wie sie hergestellt wurden, woher sie kommen, wie viel Energie dafür verbraucht wurde, wie die Herstellung sich auf den Boden auswirkt, habe ich keine Chance wirklich gut zu entscheiden. Wenn wir die Vorstellung ernst nehmen, dass wir in Demokratien leben, müssen wir darüber nachdenken, was Staatsbürger wissen müssen, um in Achtsamkeit zu handeln in einer Demokratie. Man kann keine Demokratie haben, die Menschen ignorant hält gegenüber den Tatsachen, auf deren Grundlagen sie eine Wahl treffen."