Dienstag, 19. März 2024

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Bildungskooperation zwischen Vietnam und der DDR
Wie Frau Lai und Herr Binh nach Greifswald kamen

Von Greifswald und von Geologie hatten Le Thi Lai und Le Tran Binh noch nie gehört - bis sie 1969 nach Greifswald kamen, um dort Geologie zu studieren. Die Entscheidung für das Studium in der DDR traf damals die vietnamesische Staatsführung. Für die damals jungen Studierenden ein großes Abenteuer - welches bis heute wirkt.

Von Andrea Lueg | 21.05.2018
    Das Hauptgebäude der Universität Greifswald.
    Nach einer zwölftägigen Zugfahrt kam Le Thi Lai 1969 in Greifswald an, um dort Geologie zu studieren (imago - Harald Wenzel)
    1969 tobt in Vietnam noch der erbitterte Krieg mit den USA. Das Land ist wirtschaftlich am Boden, viele Menschen leiden Hunger. Le Thi Lai lebt in einem Dorf in der Provinz Thanh Hoa, eine Küstenprovinz auf dem Übergang von Nord- nach Zentralvietnam. Le Thi Lai ist 16 und hat gerade Abitur gemacht. Da bekommt sie Post.
    "Das war im Sommer '69, da kam ein Brief von dem Ministerium, dass ich ausgewählt wurde, im Ausland zu studieren, oooh, die Freude war groß!"
    Beworben hat sich Le Thi Lai nicht. Der Staat wählt nach Abiturergebnissen und sozialer Herkunft aus, wer ins Ausland geht. Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien, wie Lai, werden bevorzugt. Das Stipendium verspricht nicht nur eine gute Ausbildung, es bedeutet auch, dass man für die nächsten Jahre sicher ist und nicht hungern muss.
    Alle Stipendiaten sammeln sich in Hanoi. Dort finden Kurse zur Vorbereitung statt. Für einen Teil des Essens in dieser Zeit muss Lais Familie sorgen.
    "Meine Mutti musste noch Reis an die Stadt verkaufen."
    Dafür bekam sie Marken, die Lai in Hanoi dann wieder gegen Reis eintauschen kann.
    "Alles war rationiert."
    Aufbruch in ein großes Abenteuer
    Mit dem Zug fährt Lai in die Hauptstadt.
    "Damals fahren die Züge nur in der Nacht, weil am Tage Bombardements."
    Das Stipendium ist Ehre und Verpflichtung zugleich. Es gibt keine Möglichkeit, irgendetwas mitzubestimmen oder gar Nein zu sagen. Dazu ist die Chance für Lai aber auch viel zu groß, erzählt sie.
    "Aufgeregt. Ja. Und Angst eigentlich nicht. Wahrscheinlich, die Freude war zu groß, um Angst zu haben."
    Alle Stipendiaten stehen aber auch von Anfang an unter großem Druck, erfolgreich zu sein.
    "Damit wir später dem Land zurückgeben können."
    In Hanoi wohnen die Ausgewählten in der Hochschule für Ökonomie, die Studenten dort haben gerade Ferien.
    "Und spannend war noch: Wir wussten immer noch nicht, in welchem Land wir studieren werden und welche Fachrichtung. Immer noch nicht!"
    Die vietnamesische Nationalflagge flattert auf dem 37 Meter hohen Flaggenturm in der Kaiserstadt in Hue, Vietnam.
    Der vietnamesische Staat wählte anhand der Abiturnoten und der sozialen Herkunft Stipendiaten aus, um sie im Ausland studieren zu lassen (picture-alliance/ dpa / Christine Kokot )
    Erst am Ende der Kurse in Hanoi wird die Katze aus dem Sack gelassen. Lai sollte in die DDR gehen und dort Geologie studieren in Greifswald.
    "Und dann frage ich ganz naiv: Was ist Geologie - also Geografie ja, aber Geologie – kein Begriff für mich."
    Egal, Lai stürzt sich in vollem Vertrauen auf die Funktionäre, die das alles so für sie bestimmt haben, in das Abenteuer. Die DDR ist sozialistischer Bruderstaat, der Vietnam im Krieg unterstützen und die vietnamesischen Studenten emotional an die DDR binden will.
    "Alles war neu für mich"
    Von 1964 bis 1980 studieren allein in Greifswald 50 Vietnamesen. Für Lai bedeutet das, erstmal zwölf Tage lang mit dem Zug durch China und Russland bis nach Leipzig zu reisen. 80 Stipendiaten sitzen insgesamt im Zug, sie alle werden irgendwo in der DDR studieren. Lai ist begeistert von den wechselnden Landschaften und den ersten Begegnungen mit den Menschen:
    "In jedem Bahnhof, in dem wir aussteigen dürfen, treffen wir die Menschen dort. Und die waren ganz anders! Die europäischen Menschen waren ganz anders und wissen Sie, alles war neu für mich und ich habe es eingesaugt, sozusagen. Es war herrlich."
    Auch Le Tran Binh, der die Reise als Stipendiat ein Jahr zuvor gemacht hat, und den Lai später in Greifwald kennenlernt, erinnert sich an die lange Zugfahrt unter anderem durch Sibirien und die Mongolei.

    "Mit diesem Restaurant-Waggon, in China haben wir ein chinesisches Restaurant bekommen, in Mongolei haben wir ein mongolisches Restaurant bekommen und wir hatten diesen Unkräutertee aus der Mongolei und wir haben Pferdemilch zum ersten Mal getrunken ja und dann haben wir in Russland das russische Restaurant bekommen mit dieser Suppe, dieser berühmten, Soljanka, ja, zum ersten Mal kriegten wir Soljanka."
    Schließlich kommt der Zug in Berlin an und von da aus geht es noch einmal weiter nach Leipzig, wo die Stipendiaten am Herder-Institut für acht Monate Deutsch lernen. Es ist schwer, erzählt Lai, am Tag lernen sie Vokabeln und am Abend versuchten sie, mit den neuen Wörtern Sätze zu bilden. Manchmal, erzählt Binh, liegt es aber nicht nur an der Sprache, dass sie etwas nicht verstehen.
    "Nach einer Woche kriegten wir so ein Stück Text zu lesen, und wir hatten damals so ein kleines Wörterbuch, deutsch-vietnamesisch. Und wir guckten nach einem Wort und konnten es nicht finden. Was war das Wort? Walter Ulbricht! Und dann war der Lehrer ganz rot: 'Wussten Sie das nicht?' - Ja, woher?"
    Im Sommer endlich geht es nach Greifswald. Von dort sind etwa zur gleichen Zeit übrigens auch Doktoranden in Vietnam. Sie arbeiten an einem Projekt zur Gewinnung von Agar-Agar, einem Geliermittel, das aus einer Algenart gewonnen wird. 1977 nimmt eine Agar-Agar Fabrik in Vietnam den Betrieb auf, das einzige Entwicklungshilfeprojekt der DDR das bis heute Bestand hat. Denn die Fabrik existiert heute noch und exportiert inzwischen Agar-Agar ins Ausland.
    Für Lai geht in Greifswald im September 1970 das Studium los.
    "Aber stellen Sie sich vor, dann im September mussten wir schon die Vorlesung hören. Kaum, kaum konnten wir etwas verstehen. Die Professoren haben so die Stichpunkte auf die Tafel geschrieben. Und mit diesen Stichpunkten haben wir nach der Vorlesung in der Bibliothek in den Büchern gelesen, was das bedeutet."
    Voneinander lernen
    Lai wohnt mit einer weiteren Vietnamesin und zwei Deutschen in einem Zimmer, Doppelstockbetten, Dusche auf dem Flur. Die deutschen Kommilitonen helfen in den ersten beiden Jahren, die Vorlesungen zu verstehen.
    "Aber umgekehrt wir haben ihnen Mathe beigebracht. Und so ist ein Ausgleich."
    Mit der Zeit klappt es immer besser, Lai schließt 1975 ihr Geologie-Studium ab und promoviert 1978. Und auch Binh promoviert erfolgreich. Lai und Binh haben sich inzwischen kennengelernt und Freunde gefunden im Norden von Deutschland.
    "Wir haben gute Freunde, in Nordbrandenburg zum Beispiel, die haben mit der Uni gar nichts zu tun, wir sind so wie Familienmitglied von denen und jeden Feiertag sind wir da hin gefahren und sie kommen zu uns, kochen wir mal zusammen und jetzt auf einmal getrennt."
    Schwieriger Abschied
    Denn nach der Promotion geht es zurück in die Heimat.
    "Es tut sehr weh, weil es damals sehr ungewiss war, ob ich überhaupt noch zurück kann. Ob ich überhaupt noch die Freunde, die Lehrer noch wieder sehe. Damals war so eine Ungewissheit. Die Trennung ist so groß. Nicht nur die Geografie, sondern überhaupt alles ist ungewiss. Und es war sehr weh für mich.
    Mein Professor und die Freunde vom Labor haben mich zum Bahnhof gebracht, ich hab wie verrückt geweint. Und dann, der Professor Seim war mein Doktorvater, er hat in meine Hand so Kaugummi gegeben - und er hat gesagt, für dich für die lange Fahrt und ich hab wie verrückt geweint."
    Binh und Lai sind inzwischen ein Paar. Zurück in Hanoi bei der Familie heiraten sie. Binh wird Direktor des Instituts für Biotechnologie der Universität Hanoi. Lai arbeitet an die Akademie der Wissenschaften im Institut für Geologie. Die beiden bekommen zwei Töchter. Aber zwischen Hanoi und Greifswald herrscht Schweigen. Was die beiden damals noch nicht wissen: Gute 20 Jahre später sollten sie helfen, ihre alte Universität Greifswald nach Vietnam zu holen.
    Hören Sie hier die ganze Sendung Campus & Karriere - darin erfahren Sie, wie die Universität Greifswald Jahrzehnte nach der Rückkehr von Le Thi Lai und Le Tran Binh nach Vietnam wieder Kontakt mit ihnen aufnahm und wie Deutschland und Vietnam heute im Bildungssektor zusammenarbeiten.