Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Bildungswesen
"Unser Schulsystem raubt Menschen Chancen"

Das deutsche Schulsystem sei selektiv und voller Hürden, sagte Marco Maurer, Journalist und Autor des Buches "Du bleibst, was du bist", im DLF. Theoretisch sei eine Durchlässigkeit innerhalb der verschiedenen Schulformen gegeben - praktisch nicht wirklich.

Marco Maurer im Gespräch mit Jennifer Rieger | 08.04.2015
    Ein Klassenzimmer mit Tafel.
    "Wer einmal auf der Hauptschule war, der findet meistens dort nicht mehr heraus." (picture alliance / dpa / Maja Hitij)
    Jennifer Rieger: Diskriminierung versteckt sich auch anderswo im deutschen Bildungswesen, und an Schulen trifft das oft die sogenannten Arbeiterkinder. Auch Marco Maurer ist das so gegangen, er ist der Sohn einer Friseurin und eines Kaminkehrers, und sein Lehrer in der sechsten Klasse empfahl ihm, doch lieber auf der Hauptschule zu bleiben. Er hat sich dann aber später doch hartnäckig durch das Bildungssystem gekämpft. Er war zuerst Hauptschüler, dann Realschüler, Berufsschüler und schließlich Abiturient, bis er sich seinen Berufswunsch erfüllen konnte und Journalist geworden ist. Er hat sich also das Schulsystem von allen Seiten angesehen und jetzt ein Buch darüber geschrieben. Es heißt "Du bleibst, was du bist", und vor der Sendung habe ich mit Marco Maurer darüber gesprochen. Gleich am Anfang des Buches tauchen drei Zahlen auf, nämlich die 100, 77 und 23. Was es damit auf sich hat, das habe ich Marco Maurer vor der Sendung gefragt.
    Marco Maurer: Diese drei Zahlen sind Teil einer Studie, die ich vor zwei, drei Jahren gelesen habe, sie sind auch weiterhin aktuell. Von 100 sogenannten Akademikerkinder studieren 77, um genau zu sein, und von 100 Nichtakademikerkindern nur 23. Und das ist eine Riesenlücke, und ich hab mich gefragt, wie entsteht diese Lücke und warum ist das so. Und ich hab dann an meinen ehemaligen Lehrer gedacht und diese Empfehlung während der Grund- und Hauptschulzeit, weil es darum ging eben, ob ich auf die Realschule wechseln soll, und er sagte zu meiner Mutter, das hat doch keinen Wert bei ihm, und so nahm das dann durch erst eine "Zeit"-Titelgeschichte seinen Lauf und jetzt ein Buch.
    "Schädigung des Selbstwertgefühls von Kindern"
    Rieger: Und diese Empfehlung oder dieser Ausspruch, das ist nichts für ihn, oder die Empfehlung geben an Arbeiterkinder, doch auf der Hauptschule oder in der Realschule zu bleiben, die wird ja häufiger ausgesprochen. Sie haben in Ihrem Buch auch noch mit anderen Arbeiterkinder gesprochen, darunter auch prominente Leute wie zum Außenminister Frank-Walter Steinmeier oder Martin Roth, der Direktor des Victoria and Albert Museum in London. Was haben Sie denn mit all diesen Leuten gemeinsam, gegen welche Widrigkeiten mussten Sie sich durchsetzen?
    Maurer: Diese Empfehlung wird natürlich auch heute noch jedes halbe Jahr ausgesprochen. Also unsere Schüler bekommen heute noch diese Grundschulempfehlungen, und sie schädigen meiner Ansicht nach - je nachdem, wie drastisch sie ausfallen - das Selbstwertgefühl von unseren Kindern. Und das war natürlich dann bei Cem Özdemir oder Frank-Walter Steinmeier oder eben bei mir zum Teil auch der Fall. Sie haben diese Empfehlung bekommen, entweder von Lehrern oder aus ihrer Familie. Da hieß es dann bei mir zum Beispiel, Journalismus, das ist doch nichts für dich, weil vielleicht in einem bestimmten Milieu eine akademische Karriere gar nicht als anstrebenswert gilt. Und das führt dann zu weiteren Problemen.
    Zum Beispiel Rüdiger Grube, der Chef der Deutschen Bahn, der sagte mir, dass ihn das so viel Kraft gekostet hat, dieser Aufstieg. Zum Beispiel seine Tante hat zu ihm gesagt, als er gesagt hat, ich würde gerne Pilot werden, da hat sie ihn ausgelacht und gesagt, aber dafür brauchst du doch Abi, meine Junge, und hat ihn so quasi abgewatscht. Und er hat gesagt, das hat ihn so viel Energie gekostet, dass nach seinem ersten Studium er in so einen kleinen Erschöpfungszustand verfallen ist. Ich hatte ihm nämlich die Frage gestellt, ob er verstehen kann - Studien der Uni Harvard erzählen das -, dass Arbeiterkinder doppelt so wahrscheinlich an Burn-out oder an einer Depression erkranken. Und das war seine Antwort. Und das ist vielleicht so die Gemeinsamkeit, dass es sehr schwer war und dass diese Menschen damit zu kämpfen hatten.
    "Unser Schulsystem ist stark selektiv"
    Rieger: Also dass man gar nicht unbedingt nur mit den Schwierigkeiten eines Studiums an sich oder überhaupt das Abi nachzuholen und eine Hochschulreife zu erlangen das Problem ist, sondern eher das Umfeld, also eher die Lehrer oder auch die eigenen Eltern, die einem dann nicht zutrauen, da Erfolg zu haben.
    Maurer: Ich würde sagen beides. Unser Schulsystem ist stark selektiv, es gibt Hürden, man wird in den meisten Bundesländern nach vier Jahren irgendwie in die Hauptschule, Realschule oder aufs Gymnasium verwiesen, und dem ordnet man sich meistens unter. Wer einmal auf der Hauptschule war, der findet meistens dort auch trotz der theoretischen Durchlässigkeit dieses Systems nicht mehr heraus, weil ihm einmal auch gesagt worden ist, du schaffst alles andere nicht. Also das ist der eine Punkt, und der zweite ist eben so, ja, ich würde sagen so ein Milieu verstärkender Effekt. Wenn die Familie irgendwie Bildung als nicht wichtig erachtet, dann ist auch die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass das Kind das nicht als wichtig erachtet oder gar nicht irgendwie erst bemerkt. Und dann sucht man sich dann irgendwie andere Dinge.
    Rieger: Würden Sie denn sagen, dass das Schulsystem schuld ist an der Misere von Arbeiterkindern?
    Maurer: Es ist Teilschuld, ja, und es geht nicht nur um Arbeiterkinder - vielleicht ganz kurz, es geht auch einfach um Menschen aus bildungsfernen Milieus. Und wer Arbeiterkinder ist - mir gefällt der Begriff gar nicht so gut, und das Schulsystem an sich ist zu selektiv. Ich war in Finnland, die setzen ja neun Jahre lang auf Gemeinschaftsschulen, und da ist es ganz anders. Da entsteht auch eine Gesellschaft in dieser Schule, da lernen die Leute miteinander, neun Jahre lang, und werden nicht nach vier Jahren aufgeteilt.
    "Professorensohn neben der Bäckertochter"
    Rieger: Ist das denn ein System, das auch für Deutschland wünschenswert wäre?
    Maurer: Ja, die Gemeinschaftsschulen gibt's ja schon in Deutschland, aber sie gibt's zu wenig und es ist nicht flächendeckend. Und die funktionieren - ich hab ja eins, zwei auch besucht - hervorragend in Deutschland, aber ich war eben auch in Finnland, bin mit einer kritischen Distanz da hingefahren, weil ich immer diese Lobhudelei auf Finnland irgendwie nicht wahrhaben wollte, und wurde aber nach einem Jahr wirklich so positiv überrascht, dass das so gut dort funktioniert. Da war eine Schule mit sehr vielen Migranten, bis zu 70 Prozent, es gab Sozialarbeiter dort, es gab Sozialpädagogen und eine Krankenschwester sogar. Und bei uns ist es so, dass ein Schulpsychologe durchschnittlich für 10.000 Leute zuständig ist, da war er für 600 zuständig, und das ist auch irgendwie der Schnitt. Das Schulessen ist umsonst, die Schulhefte sind umsonst. Und diese eben neun Jahre, da wird nichts irgendwie voneinander getrennt, da hockt der Professorensohn neben der Bäckertochter, und macht dann auch eine sehr schöne solidarische Gesellschaft am Ende.
    Rieger: Nun muss sich was ändern in Deutschland, oder anders gesagt, was passiert, wenn nichts passiert?
    Maurer: Viele unserer Probleme heutzutage fangen damit an, dass unser Schulsystem Menschen Chancen raubt. Ich war bei Ole von Beust, dem ehemaligen Ministerpräsidenten oder Bürgermeister von Hamburg, der sagte mir, wenn wir weiterhin irgendwie so viel Leute von Teilhabe ausgrenzen, dann knallt bald der Laden. Er sagte das mit Hinblick auf so französische Verhältnisse. Da muss man wissen, dass Bildungsferne zum Beispiel in den letzten eins, zwei Jahrzehnten 70 Bibliotheken angesteckt haben oder dass es Unruhen in den Banlieues gab. Bei uns ist es so, dass die Bildungsfernen eher der Wahl fernbleiben - das ist schon schlimm genug, weil das sagt auch einiges über unsere Demokratie aus -, aber es könnte eben auch sein, dass eben, wie Ole von Beust sagte, der Laden bald knallt.
    Rieger: Was würden Sie denn einem Kind aus bildungsfernem Milieu raten?
    Maurer: Ich kann natürlich einem Kind aus einem bildungsfernen Milieu nichts raten. Ein Aufstieg ist dann möglich - das hab ich bei all diesen Leuten, die ich getroffen habe, festgestellt -, wenn man einen Helfer am Wegesrand entdeckt, jemand, der die Begabung eines Kindes erkannt hat. Das war bei all diesen Menschen der Fall, meistens eben außerhalb des Schulsystems, und ich kann eher den Hörern sagen: Wenn Sie jemanden entdecken, ein Kind, das eigentlich begabt ist, aber man merkt, oh, das ist nur auf der Hauptschule oder so und ist da zu Unrecht, dann kann man da eingreifen. So hat es zum Beispiel bei Cem Özdemir funktioniert. Da hat der Nachbar gesagt, der ist begabt, dem müsste man irgendwie helfen. Heute ist er Bundesvorstand der Grünen.
    Rieger: Das war Marco Maurer über sein Buch "Du bleibst, was du bist" und seine Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.