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Biochemischer Wortsalat

Peter Adolphsen liegt offenbar daran, alles zu erzählen. Auf 110 Seiten verfolgt er das Ableben eines Urpferdes, überspringt ein paar Millionen Jahre evolutionären Flügelschlags und lässt das gestorbene Urvieh wiederaufleben im Benzintropfen des Autos einer amerikanischen Biologin - doch damit kann diese Geschichte von fast allem kaum zu Ende sein.

Rezensiert von Wolfram Schütte | 24.04.2009
    Seit der amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward N. Lorenz in den Sechziger Jahren mit seiner Frage: "Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?" die "Chaostheorie" in die Welt setzte, hat sie eine nachhaltige Faszinationskraft entfaltet. Obwohl damit doch nur das bekannte Sprichwort von den kleinsten Ursachen, die große Folgen haben, illustriert wurde, war es wohl Lorenz´ surrealistisches Bild, das die spekulative Phantasie beflügelte. Es schien, als habe der amerikanische Wissenschaftler so lange in das Oeuvre des Schriftstellers Jorge Luis Borges geschaut, bis ihm eine poetische Metapher einfiel, die der spekulativen Universalpoesie des großen Argentiniers hätte entstammen können. Und schließlich gehört der Skandal des Zufalls, mit dem wir täglich konfrontiert werden, zu den ewigen Fragen des animal rationale. Es hat erkannt, dass nichts ohne Ursache geschieht und Fausts Suche nach dem, "was die Welt im Innersten zusammenhält", hat deshalb zum Ziel, die innere Notwendigkeit im Chaos des womöglich bloß zufällig Erscheinenden aufzudecken: eine ebenso philosophische wie alchimystische Herausforderung.
    Womit wir bei dem 1972 im dänischen Arhus geborenen Schriftsteller Peter Adolphsen angekommen sind, der sein ebenso schmales wie kleinteiliges Oeuvre, das aus zwei Bänden mit ein- bis zweiseitigen Bonsai-Erzählungen besteht, solchen Problemen widmet. Sein literarischer Ehrgeiz ist es, größte Fragen in kleinsten literarischen Formaten aufzuwerfen. Sein Deutschschweizer Verlag Nagel & Kimche trug diesem exzentrischen Minimalismus Rechnung, als er vor drei Jahren Adolphsens Erzählung "Brummstein" und jetzt "Das Herz des Urpferds" in einem Buch-Kleinformat auf 90 beziehungsweise 110 Seiten präsentierte. Dabei sind beides doch gewissermaßen "Monumentalromane" des originellen Dänen. Der "Brummstein" ist ein vibrierender Gesteinsbrocken aus einer Alpenhöhe, der (gleich dem wandernden Taler in Grimms Märchen) in der Hand seiner wechselnden Besitzer die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in nuce beschwört.
    Noch größer, um nicht zu sagen: gigantisch ist Adolphsens essayistisch-erzählerisches Programm in seinem jüngsten Buch, das von der Entstehung der Welt bis zum Lungenkrebstod einer amerikanischen Biologin 2005 reicht. Er wird bewirkt durch ein Rußteilchen, das sie 30 Jahre zuvor eingeatmet hatte, nachdem es während einer der Benzinexplosionen im Verbrennungsmotor ihres Autos entstanden war, in dessen Benzintropfen das im Laufe von Jahrmillionen Jahren zu Öl gewordene Herz eines Urpferdes überdauerte, von dessen Tod als fünfjähriger Stute, deren "letzter Gedanke dem Geschmack von Farnsprossen galt", wir am Anfang der 110-seitigen kosmogonisch-mundialhistorischen Berichts erfahren. Das zu Öl gewordene Herz des nur Foxterrier-großen Urpferds hat auch für die zweite Figur der Erzählung fatale Folgen - für den nach einer Flucht aus der ehemaligen Sowjetunion über Iran in die USA gekommenen Aserbaidschaner Jimmy, den die Biologin als Anhalter aufliest: Ihm hatte, als er das mörderische Öl förderte, eine gerissene Kabelwinde den rechten Unterarm amputiert. Die zwei jungen Leute in Hippiezeiten, die der Zufall im Juni 1973 in Texas zusammenführte, wissen nichts von dieser, ihr Leben bestimmenden Geheimgeschichte, die der Erzähler 30 Jahre später, als er eine siebenmonatige Depression mit dem Besuch einer indianischen Schwitzhütte bekämpfte, den Erzählungen seines Totemtiers abhörte: eines Pferdes von der Größe eines Hundes, das ihm in einer nichtmenschlichen Sprache "die Geschichte vom Schicksal seines Herzens erzählte".
    Diese märchenhafte, erzromantische, allegorische Horrorgeschichte in der Nachfolge unseres Gespenster-Hoffmanns und Edgar Allen Poes hat Adolphsen ausgefüttert mit Abschweifungen zur Metaphysik und zu bipolaren politischen Weltordnung, zum Ursprung der Mormonen, zu Gedicht-Zitaten Emily Dickinsons und einem halluzinatorisch beschworenen LSD-Trip. Leider aber auch mit den Elaboraten einer mit biochemischen Wortsalat prunkenden Wissenschaftsprosa, deren fachsimpelnde Ironie einem die Lektüre gelegentlich sauer werden lässt.

    Peter Adolphsen: Das Herz des Urpferds. Aus dem Dänischen von Hanns Grössel. Nagel & Kimche 2008, 110 Seiten, 12.90 Euro