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Biografie
Der DDR-Architekt Hermann Henselmann und die Moderne

Über die in der ehemaligen DDR tätigen Architekten wusste man im Westen lange wenig. Allenfalls Hermann Henselmann, der als Erbauer der Stalinallee gilt, war ein Begriff. Dass sie nicht allein sein Werk ist, zeigt jetzt Elmar Kossel in seiner differenzierten und reich bebilderten Biografie, die ein ungemein spannendes Stück Zeitgeschichte bietet.

Von Beatrix Novy | 26.05.2014
    Fassaden von Wohnhäusern in der Karl-Marx-Allee am Abend bei untergehender Sonne, fotografiert am 27.06.2013 in Berlin. Foto:
    Anders als bislang angenommen, war Hermann Henselmann nur für einige markante Teile der Karl-Marx-Allee, ehemals Stalinallee, verantwortlich. ( Jens Kalaene / dpa)
    Als nach der Wende die Westdeutschen begannen, das wiedergewonnene Ostberlin zu erkunden, begeisterten sie sich sofort für die Karl-Marx-Allee, ehemals Stalinallee. Was an dieser monumental-neoklassizistischen Prachtmeile, Produkt einer kurzen Ära stalinistischer Geschmacksdiktatur, so begeisternd sein sollte, blieb manchen DDR-Architekten damals unerfindlich; das Leiden an Bauwirtschaftsmoderne und Abriss, die Hinwendung zu Denkmalschutz, Postmoderne und Rekonstruktion war eben eine westdeutsche Angelegenheit gewesen.
    Die Öffentlichkeit im Westen wiederum hatte wenig Ahnung von den in der DDR tätigen Architekten. Nur der Mann, der allgemein als Erbauer der Stalinallee galt, war über Fachkreise hinaus bekannt, nämlich Hermann Henselmann. Dass die Allee das Werk mehrerer Architekten und Henselmann nur für einige markante Teile verantwortlich war, fällt gewöhnlich unter den Tisch - nicht das einzige Missverständnis, dem Elmar Kossel eine differenziertere Sicht entgegensetzt in seinem Buch.
    Überzeugter Le Corbusier-Anhänger
    Dies ist keine Biografie; vielmehr eine Lebens- und Werkbeschreibung unter dem Aspekt der Beziehung Henselmanns zur Architektur-Moderne. Eine heikle Beziehung, wenn man, wie Henselmann, unter der ideologischen Fuchtel des NS-Staats und später der DDR arbeitete.
    Nur die ersten Schritte tat der junge Architekt und überzeugte Le Corbusier-Anhänger noch in der Zeit der Weimarer Republik. Die Villa Kenwin am Genfer See ist die erste der markanten Stationen in Henselmanns Werk, an denen entlang Elmar Kossel seine Darstellung aufgliedert. Aber war es wirklich Henselmann, der die Villa Kenwin für ein der Avantgarde zugeneigtes britisches Ehepaar baute?
    Elmar Kossels Recherchen lassen ihn andere Schlüsse ziehen und den größeren Anteil Alexander Ferenczy zuschreiben, von Henselmann später nur als "der ungarische Vermittler" spärlich erwähnt. Das ist die erste und längst nicht die letzte Differenz zu Henselmanns eigenen Erinnerungen, die 1980 unter dem Titel "Drei Reisen nach Berlin" in der DDR erschienen und die ein wenig zu zerpflücken Elmar Kossels Anliegen sein muss. In diesen glänzend geschriebenen Memoiren betont Henselmann beim Rückblick auf die Villa Kenwin die linke Gesinnung seiner schwerreichen Auftraggeber, schon eine kleine Kostprobe seiner Fähigkeit, sich umgänglich im Kleinen und zielorientiert im Größeren durch die Lästigkeiten einer Diktatur zu schlagen.
    Gelernt hatte er das unter ungleich gefährlicheren Bedingungen. Als nach 1933 die Bauhaus-Moderne als "kulturbolschewistisch" verfemt wurde, bekam Hermann Henselmann das zu spüren, schaffte es aber, für die Planungen im Warthegau verpflichtet zu werden, also für Ansiedlungen von "Volksdeutschen" in den eroberten Ostgebieten. Diesen Dienst am Regime spielte er später herunter, Kossel wiederum hängt ihn höher als nötig, zum Beispiel wenn er Henselmanns technokratischen Jargon als Kriegsverherrlichung brandmarkt. Zumal Henselmann 1941 als sogenannter Halbjude denunziert worden war – das war notabene lebensgefährlich.
    Größere Planungen warteten auch nach dem Krieg auf ihn, als Hochschul-Direktor in Weimar, beauftragt, Vorstellungen für den Wiederaufbau zu entwickeln. Dass der nur mit einer Architektur der Moderne, also des Fortschritts, zu machen war, galt ihm da, wie den meisten Architekten, noch als selbstverständlich. Aber die Phase vielfältiger und freier Ideenschöpfung ging früh zuende. Nach Moskau zitiert, brachten DDR-Architekten 1950 Stalins "16 Grundsätze des Städtebaus" mit nach Hause.
    "Sozialistisch im Inhalt, national in der Form!"
    Mit dieser Formel erledigten sich die Blütenträume von aufgelockerten, grünen Stadtlandschaften, Flachdächern und Punkthochhäusern. Die Architektenschaft reagierte uneinheitlich. Nur wenige trauten sich, wie es Richard Paulick tat, die vom großen Bruder geforderte Bauweise als "Kitsch" zu bezeichnen.
    "Feudalistische Narrenkappe!"
    Oder gar die unübersehbare Ähnlichkeit zu jenem Baustil zu benennen, den auch Hitler dekretiert hatte. Es folgte die bewährte stalinistische Hetzjagd auf Abweichler von der nunmehr geltenden Doktrin, zu denen auch Henselmann gehörte. Der aber verfolgte auch in dieser Situation und in den Wechselfällen der folgenden Jahre eine überlegene Taktik des behutsamen Einschwenkens auf die offizielle Linie, sich nichts vergebend, an frühere eigene Gedanken anknüpfend. Hatte er bisher Goethes Diktum
    "Das Gleiche lässt uns in Ruhe, der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht",
    als Leitwort verwendet, um die Moderne als Endpunkt einer Entwicklung aus dem Humanismus zu feiern, war dieser Endpunkt nun die klassizistische Tradition preußischer Prägung. In der Praxis rehabilitierte er sich mit einem entsprechenden Bau: dem Hochhaus an der Weberwiese, es wurde die Keimzelle der Stalinallee. Er war ihnen eben über, den Genossen, das ärgerte sie ja so:
    "Dekadenter Bohemien mit ungeordnetem Privatleben"
    "Genosse Henselmann besitzt nicht die notwendige Parteiverbundenheit und verfügt über kein Klassenbewußtsein. Genosse Henselmann verzichtet nicht auf die Achtung unserer bürgerlichen Gegner und ist stolz darauf, da er nicht so konsequent Marxist ist wie andere."
    Dieser "dekadente Bohemien mit ungeordnetem Privatleben" wurde 1953 Ostberlins Chefarchitekt, blieb es aber nur 5 Jahre lang. Eine bruchlose Karriere war dem schillernden Individualisten nicht möglich, obwohl die Tauwetter-Periode nach Stalins Tod den Aufstieg der Moderne brachte. Aber welche Moderne? Die, die es gab, hatte doch schon der Klassenfeind. Ulbricht mochte sie nicht, deshalb verwarf er Henselmanns allzu westlich wirkenden Entwurf für den zweiten Abschnitt der Stalinallee. Der Teil des Buches, der diese Diskussion behandelt, ist der faszinierendste: die krampfhaften Versuche, sich vom Systemgegner abzugrenzen, das verzweifelte Bemühen um die Definition eines sozialistischen Städtebaus, als könne es sowas geben. Henselmann ahnte die Unsinnigkeit der Debatte:
    "Mit der schlichten Formel 'Die Architektur im Westen dient dem Kapitalismus, also ist sie schlecht' oder 'Alles, was aus dem rechten Winkel gerät ist formalistisch' kommen wir nicht weiter."
    Vorbild Oscar Niemeyer
    Schrieb er und suchte trotzdem nach Möglichkeiten, so etwas wie eine sozialistische Architektur zu definieren. Es gelang ihm mit dem Vorbild Oscar Niemeyers, dessen kommunistische Gesinnung ihn vorzeigefähig machte, und mit einer aussagekräftigen Muralkunst, wie sie am Haus des Lehrers am Alexanderplatz zu bewundern ist und bewundert wird.
    Und nun keine Angst. Wer dieses Buch liest, eine sehr flüssig geschriebene und großzügig bebilderte Dissertation, muss nicht alle Fachbegriffe voll erfassen können und auch nicht allen Thesen des Autors folgen, um in Hermann Henselmanns Karriere ein ungemein spannendes Stück Zeitgeschichte nachzuerleben.
    Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne.
    Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR
    Verlag Langewiesche Nachfolge 2013
    ISBN 978-3-78445-7405-9, 198 Seiten, 39,80 Euro