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Biographie
Der russisch-deutsche Brückenbauer Lew Kopelew

Der russische Literaturwissenschaftler und Menschenrechtler Lew Kopelew hat sich trotz seiner Ausbürgerung um die deutsch-russische Freundschaft bemüht. Sein Leben war exemplarisch für die Wendungen des 20. Jahrhunderts. Zu seinem 20. Todestag ist nun eine Biographie über Kopelew erschienen, verfasst vom Schweizer Journalisten Reinhard Meier.

Von Gemma Pörzgen | 12.06.2017
    Der russische Literaturwissenschaftler und Menschenrechtler Lew Kopelew
    Lew Sinowjewitsch Kopelew (*9. April 1912 in Kiew;†† 18. Juni 1997 in Köln) (dpa/Horst Galuschka)
    Mit seinem langen, weißen Bart war Lew Kopelew schon auf den ersten Blick eine eindrucksvolle Erscheinung. Der sowjetische Regimekritiker wurde in Deutschland bekannt, als ihn die Kremlführung während eines Studienaufenthaltes in der Bundesrepublik im Jahr 1981 ausbürgerte. Zusammen mit seiner Frau Raissa Orlowa musste der Literaturwissenschaftler im deutschen Exil in Köln ein neues Leben aufbauen, was ihm erstaunlich gut gelang. Für viele Deutsche wurde Kopelew zu einem der wichtigsten Russlanderklärer, der sich in der Öffentlichkeit engagiert und wortstark in viele Debatten einbrachte. Sein Schweizer Biograf Reinhard Meier charakterisiert den streitbaren deutsch-russischen Brückenbauer im Rückblick so:
    "Lew Kopelew war eine inspirierende, warmherzige Persönlichkeit von enzyklopädischem Wissen und unerschöpflicher Neugier. Der Bremer Osteuropahistoriker Wolfgang Eichwede hat sein Leben eine Jahrhundertbiographie genannt. Sie ist tief durchdrungen sowohl von den großen Katastrophen wie auch den glücklichen Wendungen, die sich im 20. Jahrhundert in Russland und in Mitteleuropa abgespielt haben."
    Aufgewachsen in einer jüdischen Familie im ukrainischen Kiew wurde Kopelew schon von seinem Kindermädchen mit der deutschen Sprache vertraut gemacht. Meier behandelt die Stationen dieses eindrucksvollen Lebens chronologisch, greift dabei auf Kopelews autobiographische Bücher ebenso zurück wie auf eine Fülle weiterer Quellen. Kenntnisreich beschreibt er die langsame Entwicklung des Stalinisten zum aufgeklärten Weltbürger. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte Kopelew als Propagandaoffizier der Sowjetarmee gegen Hitlers Wehrmacht. Fast zehn Jahre verbrachte er danach in sowjetischer Lagerhaft, wegen angeblichen Verrats und "Mitleid mit dem Feind". Im Gefängnis wurde er ein enger Freund des russischen Schriftstellers und späteren Literatur-Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn, der eine Figur in seinem Roman "Im ersten Kreis" an Kopelew anlehnte.
    Die ambivalente Freundschaft zu Solschenizyn
    Die konfliktreiche Beziehung der beiden Männer nimmt in der Biographie breiten Raum ein und gehört zu den Stärken des Buches. Der frühere Moskau-Korrespondent der NZZ erhielt Zugang zu beiden Privatarchiven. Er zitiert ausführlich aus dem bisher unveröffentlichten Briefwechsel und zeichnet die zunehmende Entfremdung bis hin zum Bruch eindrucksvoll nach.
    "Gewiss spielen bei diesem unversöhnlichen Streit vielerlei zwischenmenschliche Motive und Kränkungen mit hinein. Doch im innersten Kern dreht sich der Konflikt um die traditionelle und nach wie vor hochaktuelle russische Auseinandersetzung zwischen Westlern und Slawophilen, worauf auch der Schriftsteller Jewgenij Jewtuschenko, der mit Kopelew befreundet war, hingewiesen hat. Solschenizyn hatte sich in seinem Exil in Vermont vom gesellschaftlichen Leben im Westen weitgehend isoliert. Er betonte mit Entschiedenheit, dass Russland sich von der westlichen Kultur abwenden und einen anderen, eigenen Weg gehen müsse."
    Anders als Solschenizyn in den USA fasst Kopelew in seiner neuen Heimat recht schnell Fuß. Er spricht fließend Deutsch, ist ein Kommunikationstalent und steht der westlichen Welt offen gegenüber, deren Werte er teilt. Die für den Bürgerrechtler wichtigste und prägendste Freundschaft in seiner zweiten Lebenshälfte ist diejenige zu Heinrich Böll. Die beiden waren sich während einer Moskaureise des Kölner Schriftstellers 1962 erstmals begegnet. Meier zitiert in seinem Buch aus einem Artikel Heinrich Bölls über die Entwicklung dieser besonderen Verbindung:
    "Es war Freundschaft auf den ersten Blick, als wir uns in Moskau vor fast zwanzig Jahren zum ersten Mal begegneten, es war eine Freundschaft, die mehr hielt, als sie versprach; eben weil mehr als bloße Sympathie, war auch das Erkennen einer Verwandtschaft. Da gab es gewisse äußere Ähnlichkeiten: Gleichgültigkeit gegenüber Kleidung, beide nie so richtig angeschirrt, schon gar nicht adrett, beide nie so recht diszipliniert und auch nicht so recht disziplinierbar; doch da war weitaus mehr, das uns verband, und ich weiß bis heute nicht so recht, worin es besteht; es hat einer wohl doch Brüder, die nicht durch die Biologie als solche bestimmt sind und die auch nicht unter das Schlagwort Brüderlichkeit fallen."
    Die Kopelews in Köln
    Wie Meier in dem Buch schildert, gehören auch die Freundschaften zum Schweizer Schriftsteller Max Frisch, zu den DDR-Autorinnen Christa Wolf oder Anna Seghers und der Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff zu den wichtigsten Konstanten in Kopelews Leben. Er ist ein Menschenfänger, der neben seiner engagierten Schreibarbeit intensive Beziehungen pflegt. Das Kölner Heim der Kopelews ist, wie die frühere Moskauer Wohnung, fast immer ein offenes Haus voller Menschen:
    "Die Kopelew-Adresse in der Neuenhöfer Allee wurde schnell zum Zentrum eines weit gespannten und pulsierenden Kosmos. Dieses Zentrum wieder setzte sich zusammen aus einer Abteilung für deutsch-russisch-familiäre Küchengespräche, einer Art Karawanserei für logierende nahe und entfernte Verwandte oder Durchreisende sowie einer höchst produktiven Denk- und Schreibfabrik. Kopelews Stieftochter Swetlana bemerkte denn auch einmal nach einem längeren Aufenthalt bei den Eltern in Köln, eigentlich habe sich für diese nicht so viel geändert , sie setzten hier ihr Leben und die Aktivitäten fort, denen sie sich auch in Moskau verschrieben hätten."
    Leider vermag das Buch trotz der Fülle des Materials nur an wenigen Stellen eine solche Farbe und Lebendigkeit zu vermitteln, die für Lew Kopelew so charakteristisch war. Die Schilderungen bleiben ein wenig trocken. Wer eine Antwort darauf sucht, welche zeithistorische Bedeutung dieser russisch-deutsche Brückenbauer erlangt hat und welche Rolle er heute für die russische Erinnerungskultur spielt, wird in dieser Biographie enttäuscht. Meier belässt es vor allem bei der Beschreibung und versäumt eine weiter gehende Reflexion über diesen ungewöhnlichen Lebensweg.
    Reinhard Meier: "Lew Kopelew, Humanist und Weltbürger"
    Theiss Verlag, 304 Seiten, 29,95.