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Biografie
Jürgen Habermas - engagiert, unbefangen, innovativ

Er ist einer der meistgelesenen Philosophen: Jürgen Habermas. Der Autor und Soziologe Stefan Müller-Doohm hat über Jahre recherchiert, mit Weggefährten, Zeitzeugen und Habermas selbst gesprochen. Entstanden ist eine ausführliche Lebens- und Werkgeschichte über den wissenschaftlichen sowie politischen Habermas - pünktlich zum 85. Geburtstag des Denkers.

Von Norbert Seitz | 16.06.2014
    Der Philosoph Jürgen Habermas am 12.12.2012 bei einer Pressekonferenz im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen).
    Der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas wird am 18. Juni 2014 85 Jahre alt. (picture alliance / dpa - Martin Gerten)
    Mit der Sprache sei Mündigkeit für uns gesetzt, lautet seine Antrittsbotschaft von 1965 am Hofe der Frankfurter Schule und ihrer geadelten Mitbegründer Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Die Möglichkeit des Utopischen liegt danach in der sprachlichen Verständigung, Zustimmung zu finden durch den "zwanglosen Zwang des besseren Arguments." Damit sollte Jürgen Habermas den Horizont der klassischen Kritischen Theorie überschreiten. Stefan Müller-Doohm:
    "Der Ansatzpunkt bei Habermas ist das Vernunftpotenzial der Sprachpraxis. Dass wir, wenn wir miteinander sprechen, prinzipiell in der Lage sind, etwas Vernünftiges herauszufinden. Das ist eine Denkfigur, die es in der älteren Kritischen Theorie nicht gibt (...). Ich würde aber noch einen Schritt weiter gehen und sagen, wenn man die Zielperspektive von Habermas ins Auge fasst, dann ist es über das Vernunftpotenzial der Sprache hinaus die Idee unversehrter Inter-Subjektivität."
    Müller-Doohm lässt Habermas in einem Zitat den "ungemütlichen Geist des Hauses" am ruhmreichen Institut für Sozialforschung schildern, in dem dieser auf das "Zirkelhafte und Dogmatische einer verschworenen Gemeinschaft" stieß:
    "Als ich nach Frankfurt kam, fiel mir auf, dass sich Horkheimer und Adorno wenig auf die zeitgenössische Philosophie bezogen haben. (...) Subjektiv gesehen habe ich mich als jemanden empfunden, der gegenüber der sehr engen, beinahe dogmenbildenden Auswahl von 'zugelassenen' Texten etwas unbefangener philosophische und wissenschaftliche Traditionen aufnimmt."
    Meisterwerk "Theorie des kommunikativen Handelns"
    Jene "Unbefangenheit" im Umgang mit zeitgenössischer Philosophie ist gleichsam Antriebsmotor eines beispiellosen Denkprojektes, das Anfang der 1980er-Jahre im Meisterwerk seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" gipfeln sollte. Habermas versucht darin mehrere, zum Teil sogar von Hause aus widerstreitende philosophische Denkrichtungen wie Legobausteine zu einem tragfähigen und utopiegerechten Gesamtgebilde zusammenzufügen:
    "Herr Habermas geht davon aus, dass wir alle, die wir Philosophie betreiben oder Sozialtheorie, auf den Schultern von Riesen stehen. Und dass wir zunächst einmal die vorhandenen Denkansätze rezipieren und verstehen müssen. Und diese dann, klug nach Maßgabe unserer eigenen Erkenntnisinteressen kombinieren müssen. Und darin ist Habermas ein Meister, auch deshalb, weil er nicht von vornherein von einer geschichtsphilosophisch begründeten Grundthese ausgeht, ob das nun Marx oder Freud, ob das Mead ist, oder die Hermeneutik, er schaut sich all diese verschiedenen Ansätze an, und versucht herauszufinden, was er davon lernen kann (...)."
    Darüber hinaus verstand es Habermas stilprägend, seine Rolle als innovativer Sozialphilosoph mit der des engagierten Intellektuellen zu vereinen.
    "Ich meine, dieses politische Engagement ist Konsequenz seiner politischen Philosophie, einer Philosophie, in deren Mittelpunkt der Begriff der Öffentlichkeit steht (...). Er will die Probe aufs Exempel machen, er will die Produktivkraft Kommunikation unter Beweis stellen. Und deswegen meldet er sich unentwegt zu Wort."
    Im deutschen Terror-Herbst 1977 warnt Habermas vor inquisitorischen Tendenzen im aufgeschreckten Lande. 1986 bricht er als Nicht-Historiker die "Historikerdebatte" um den nicht relativierbaren Genozid an den europäischen Juden vom Zaum. Darüber hinaus sind seine Titel und plakativen Befunde in den Debattenjargon eingegangen: "Strukturwandel der Öffentlichkeit", "Verfassungspatriotismus" oder "die Neue Unübersichtlichkeit". Seine Rolle beschrieb er einmal wie folgt:
    "Öffentlichkeit als Raum des vernünftigen kommunikativen Umgangs miteinander ist das Thema, das mich ein Leben lang beschäftigt hat. Die begriffliche Trias aus Öffentlichkeit, Diskurs und Vernunft hat meine wissenschaftliche Arbeit und mein politisches Leben tatsächlich beherrscht."
    "Europa ist für ihn nicht alles"
    Heute treiben den 85-Jährigen vor allem die Demokratiedefizite der EU um, zumal er noch viel mehr vorhat:
    "Europa ist ja für ihn nicht alles. Natürlich hat im Prozess der Globalisierung der Nationalstaat eigentlich ausgedient, er hat keine Chance, sich zu behaupten (...). Und er will ja hinaus auf das, was er eine Weltbürgergesellschaft ohne Weltregierung nennt. Das ist mehr als Europa."
    Über den fruchtbaren Ertrag seiner mehrjährigen Forschungen und Gespräche hinaus hätte man sich von Stefan Müller-Doohm an der einen oder anderen Stelle einen kritischeren Blick gewünscht. Denn die Warnungen des Jürgen Habermas waren nie nur erweckend, sondern häufig auch alarmistisch, wie zum Beispiel seine letztlich übertriebene Angst vor einem "DM-Nationalismus" nach der Deutschen Einheit. Ziemlich wirkungslos blieb auch sein opulenter Aufruf vor dem Irak-Krieg 2003 zur Konstitution einer "Europäischen Öffentlichkeit", den er gemeinsam mit westeuropäischen Intellektuellen wie Jacques Derrida formuliert, Vertreter der osteuropäischen Intelligenz aber unverzeihlicherweise ausgespart hatte.