Dienstag, 23. April 2024

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Biologie
Ordnung im Geäst

Millionen Insekten, Tausende Vögel - die Evolution hat der Erde eine ungeheure Artenvielfalt beschert. Wie es in all den Jahrmillionen dazu kam, konnten Wissenschaftler bisher nur aus Fossilien rekonstruieren. Wann sich gefiederte Tiere in die Lüfte erhoben, warum Hummeln und Bienen getrennte Wege gingen und woher das Gezwitscher der Vögel stammt - all das blieb bisher im Dunkeln.

Von Joachim Budde | 01.02.2015
    Eine Gottesanbeterin auf einem Ast
    Eine Gottesanbeterin auf einem Ast (imago / Chromorange)
    Schon vor ein paar Jahren haben Forscher einzelne Gene verschiedener Arten verglichen und versucht, daraus Rückschlüsse über die Stammesgeschichte der Spezies zu ziehen. Seit Kurzem arbeiten Sequenzierautomaten aber so preiswert und schnell, dass sich internationale Forscherteams daran machen konnten, sämtliche Gene von hunderten Insekten- und Vogelarten in ihre Analysen einzubeziehen. Da trifft es sich gut, dass auch die Informatiker dazugelernt haben: Sie lieferten passende Algorithmen, um die ungeheure Datenflut zu bewältigen. Und tatsächlich sind die Ergebnisse geeignet, die Geschichte der beiden großen Tiergattungen neu zu schreiben. Wie im Zeitraffer ziehen die Erdepochen vorüber und es zeigt sich, wie das Auseinanderdriften der Kontinente oder revolutionäre Neuerungen der Evolution mit dem Kommen und Gehen der Arten verwoben ist.
    Die Neuordnung des Stammbaums als Video (Englisch):
    Am Anfang waren Himmel und Erde, und die Erde war mit Wasser bedeckt. Dann hob sich Land aus den Fluten.
    "Wir hatten nicht die Kontinentalumrisse, wie wir sie heute kennen."
    Die Meere wimmelten Leben. Das Land aber war wüst und leer.
    "Es muss eine Ressource verfügbar gewesen sein, Nahrung und so weiter, sonst macht dieser Gang an Land keinen Sinn."
    Die Wellen spülten Algen an.
    "Das kennt man vielleicht vom Strand, wenn man Urlaub macht, wenn es stürmisch war."
    "Das sind ganz, ganz kleine Mikrohabitate, wo sich halt diese Algen, Flechten, Moose dann ansiedeln, es reicht auch manchmal aus, doppelt so groß wie die Kaffeetasse."
    Erste Tiere krabbelten auf den Strand.
    "Es war der Landgang der Insekten, der offensichtlich die Initialzündung für die ganze Evolutionsgeschichte der Insekten war."
    Vor 480 Millionen Jahren schwappte das Leben an Land. Insekten waren unter den ersten. Es ist eines der Details, die Wissenschaftler gefunden haben, als sie jetzt den Stammbaum der Insekten rekonstruierten. Erstmals sind die Forscher in der Lage, große Astgabelungen auf diesem Stammbaum einigermaßen genau zu datieren. Und sie zeigen: Viele einschneidende Ereignisse in der Erdgeschichte waren auch Meilensteine der Evolution.
    "Insekten sind die treibenden Motoren unserer terrestrischen Ökosysteme und haben wahrscheinlich von Beginn an gemeinsam mit Pflanzen in koevolutiven Prozessen unsere Umgebung, in der wir leben, geprägt und prägen sie auch heute noch."
    Was haben Entomologen nicht alles spekuliert in den letzten 100 Jahren! Jetzt liegt eine Fülle neuer Fakten vor über die Insekten - die vielfältigste Klasse von Lebewesen auf der Erde. Und in der Luft natürlich.
    Geflügelte Konkurrenz bekamen Insekten erst nach vielen Millionen Jahren. Von den Vögeln.
    Rahbek: "All die Jahre haben wir vergeblich versucht, die Evolution der Vögel nachzuvollziehen, und gedacht: Wenn wir nur genug Daten hätten, würde sich alles fügen."
    Jetzt sind die Daten da. Jetzt ist auch dieser Stammbaum rekonstruiert. Und es zeigt sich: Die friedliche Taube stammt von einem riesigen Terrorvogel ab. Und Papageien lernen Laute mithilfe derselben Gene wie die Menschen.
    Jarvis: "Ich wuchs auf mit der Vorstellung, der Stammbaum der Vögel stehe fest. Aber jetzt weiß ich: ganz im Gegenteil."
    Die Insekten richteten sich ein auf dem Land.
    Rust: "Wir reden hier über einen Zeitraum, der liegt bei 460, 480 Millionen Jahre etwa, das sogenannte Ordovizium."
    Langsam entwuchsen sie dem Meer, mit ihnen andere Tiere und Pflanzen.
    Rust: Die Idee von, ja, moosähnlichen Pflanzen, von angeschwemmten Algen, das ist nicht ganz verkehrt, weil das ein Milieu ist, wo die sich auch heute noch wohlfühlen.
    Gemeinsam machten sie sich die Erde untertan.
    Rust: Ausgedehnte Wälder oder so was, die tauchen erst im sogenannten Devon auf, also mindestens 80 Millionen Jahre später,
    Bald wuchsen Bäume in die Höhe. Insekten eroberten die Luft.
    Misof: "Libellen und Eintagsfliegen repräsentieren wahrscheinlich sehr, sehr ursprüngliche Typen von geflügelten Insekten."
    Rust: "Die Eroberung des Luftraumes ist mindestens genauso wichtig gewesen für die Insekten wie die Eroberung des Festlandes."
    Ein jedes Tier fand seine Nahrung: Heuschrecken fraßen Blätter. Gottesanbeterinnen Insekten. Termiten Holz.
    Misof: "Wir sehen, dass mit der Evolution der modernen geflügelten Insekten eigentlich erst die richtige große explosive Evolution der Vielfalt der Insekten begonnen hat."
    Im Reich der Insekten
    Das Museum König in Bonn. Hinter dem geschichtsträchtigen Altbau, steht ein moderner Klotz. Der Clas-M.-Naumann-Bau ist das Reich der Insekten. Im obersten Stockwerk laufen die Fäden eines gigantischen Projekts zusammen: 1KITE das 1K-Insect-Transcriptome-Evolution-Projekt.
    Misof: "Aus den heute lebenden Insekten können wir eben Informationen zu den Erbanlagen herausziehen und gewinnen, und wir können mit diesen Informationen Stammbäume rekonstruieren."
    Professor Bernhard Misof leitet das Zentrum für Molekulare Biodiversitätsforschung am Museum König. Er hat 1KITE koordiniert. Mehr als 100 Evolutionsbiologen, Genetiker, Paläontologen und Insektenforscher aus der ganzen Welt haben dabei zusammengearbeitet. Und natürlich Bioinformatiker.
    Misof: "In jedem Insekt hat man ungefähr 20.000 Gene. Und um jetzt einzelne Arten vergleichen zu können und um Verwandtschaftsanalysen machen zu können, müssen wir das gleiche Gen aus allen diesen einzelnen Insektenarten herausfischen, sonst würden wir Äpfel mit Birnen vergleichen. Man stellt fest, wirklich sicher vergleichbar sind nur etwa 1500 Gene zwischen diesen einzelnen Arten von diesen 20.000 Genen."
    Für ihre Analysen verwenden die Forscher den Botenstoff RNA. Den bilden die Zellen, wenn sie die Information der eigentlichen Gene auf der DNA ablesen. Die RNA wird dann Buchstabe für Buchstabe in Proteine übersetzt. Sie ist sehr empfindlich, sagt Dr. Oliver Niehuis.
    Niehuis: "Ich habe mehrere Fahrten in die Negev-Wüste unternommen nach Israel, in der Wüste ging es dann bei 30 bis 40 Grad auf die Suche nach den Insekten, und sobald man die Tiere gefunden hatte, musste man die Tiere tatsächlich vor Ort prozessieren, und anschließend in eine Kühltruhe überführen, um zu vermeiden, dass die RNA durch die hohe Temperatur abgebaut wird."
    Das eigentliche Problem war aber, die Insekten direkt nach dem Fang korrekt zu bestimmen; bevor die RNA Schaden nahm.
    Im Labor am Museum König öffnet der Forscher ein kleines Plastikröhrchen, ein Eppendorfgefäß mit einer Salzlösung, die die RNA konserviert, dem RNA-Later:
    Niehuis: "Und dann haben wir ein Pestel genommen, und haben das dann in dem Eppendorfgefäß zermörsert, das muss man sehr ausgiebig machen, weil wir die Zellen damit aufschließen müssen, um die Flüssigkeit in den Kontakt mit der RNA zu bekommen, und diese Proben wurden von uns dann an unseren Kooperationspartner, das Beijing Genomics Institute Shenzen in China zur Analyse geschickt."
    Knapp 1500 Gene von 144 repräsentative Arten aus allen Insektengruppen sind in den ersten Stammbaum eingegangen, den 1KITE veröffentlicht hat.
    Misof: "Größere Datenmengen für jede einzelne Art können wir eigentlich nicht mehr produzieren."
    Jarvis: "Existierende Algorithmen konnten diese Datenmenge gar nicht verarbeiten."
    Das Heidelberger Institut für Theoretische Studien liegt mitten in einem ruhigen Villenviertel an einem Hang, der steil zum Neckar abfällt. Alexandros Stamatakis leitet die Forschungsgruppe "Scientific Computing". Er beschäftigt sich seit Jahren mit parallelem Rechnen, also wie man riesige Rechenoperationen auf hunderte Computerprozessoren verteilt. Für das Stammbaumprojekt hat seine Gruppe Software so überarbeitet, dass sie dreimal schneller ist und achtmal mehr Prozessoren gleichzeitig beschäftigen kann als bisher.
    Stamatakis: "Das macht einen Faktor von 24. Vereinfacht dargestellt heißt das, dass wir statt 24 Monate auf die Ergebnisse zu warten, letzten Endes nur einen Monat auf die Ergebnisse warten mussten, und das ist der große Fortschritt, dass wir viel schneller an die Ergebnisse kommen."
    Die Bioinformatiker haben die genetischen Daten aus China in den Computer eingespeist und mittels einer Methode verglichen, die Molekulare Uhr heißt.
    In den 60er Jahren entdeckten Forscher, dass sich ein Gen in verwandten Arten gleich schnell verändert. Wenn man sich anschaut, wie sehr es sich in den beiden Arten unterscheidet, kann man zurückrechnen, wann zuletzt der gemeinsame Vorfahr der beiden Arten mit diesem Gen gelebt haben muss.
    Bei einem Gen funktioniert das recht gut. Dummerweise verändern sich verschiedene Gene unterschiedlich schnell. Das bedeutet, Stamatakis' Gruppe musste mehrere Stammbäume abgleichen. Viele Stammbäume waren möglich für die 144 Arten der ersten Studie. Ein ganzer Wald.
    Stamatakis: "Für zehn Spezies gibt es ungefähr zwei Millionen mögliche Bäume, und man hat dann eben anhand der Daten eine Funktion, die einem sagt, wie gut ein Baum zu den Daten passt."
    Wollte man den optimalen Baum finden, müsste man diese Funktion für alle zwei Millionen Bäume ausführen. Je mehr Spezies, desto größer die Zahl der Bäume.
    Stamatakis: "Wir hatten diese Zahl, dass für ungefähr 50 Spezies es ca. zehn hoch 76 unterschiedliche Bäume gibt, vermutlich würden da alle Rechner auf der ganzen Welt zehn, 20 oder 30 Jahre brauchen, um diese ganzen Bäume wirklich durchzurechnen und dann den besten zu finden."
    Der Trick ist, die offensichtlich falschen Bäume, die mit dem komischen Wuchs am Rand des Waldes, von vornherein zu ignorieren. Die Informatiker suchen sich direkt einen Baum tiefer drinnen im Wald aus, von dem sie wissen, dass er einigermaßen stimmt. Dann vergleichen sie ihn mit dem Baum nebenan. Sie schauen, welcher Baum besser zu ihren Daten passt. Entweder gehen sie weiter, oder sie kehren zum letzten Baum zurück und wenden sich in eine andere Richtung. An irgendeinem Punkt sind dann alle Bäume in alle Richtungen schlechter als der aktuelle. Damit haben sie den Richtigen gefunden.
    Stamatakis: "Wenn ich da korrigieren darf, wir haben ein mögliches Evolutionsszenario berechnet. Also wir haben jetzt nicht den Stammbaum der Insekten rekonstruiert, sondern einen möglichen, der den Biologen plausibel erscheint, der aber keinesfalls jetzt tatsächlich korrekt sein muss."
    Den Algorithmen ist es natürlich egal, von welchem Lebewesen die Nukleotid-Ketten stammen, die sie analysieren.
    Stamatakis ist darum gleichzeitig in ein zweites Projekt involviert, das den Stammbaum einer weitaus jüngeren Gruppe von Tieren untersucht: der Vögel.
    Stamatakis: "Für die Vögel mussten wir überhaupt nichts anpassen, weil diese Methoden ja eigentlich auf allen DNA-Sequenzen funktionieren. Der große Beitrag, den diese Projekte leisten, ist eben, dass sehr viel neue Software entwickelt wurde, nicht nur von uns, sondern auch von anderen involvierten Informatikern, und der große Gewinn ist eben, dass solche Pionieranalysen jetzt eigentlich von jedem durchgeführt werden können."
    Grundsätzlich haben alle Projekte ein gemeinsames Problem: Die genetischen Daten allein liefern viel zu ungenaue Ergebnisse, sagt Professor Erich Jarvis. Der Neurobiologe von der Duke University im US-amerikanischen Durham hat das Avian Phylogenomics Project, das Vögelstammbaumprojekt koordiniert.
    Jarvis: "Wir haben den Baum kalibriert, indem die Paläontologen unserer Gruppe in Kopenhagen sehr sorgfältig Fossilien ausgewählt haben, die zuverlässig bestimmt und datiert sind."
    Am Steinmann-Institut für Geologie, Mineralogie und Paläontologie der Universität Bonn holt Jes Rust ein Malzbonbon so groß wie ein Backstein aus dem Schrank: indischer Bernstein:
    "Hier wissen wir, dass dieser Bernstein 53 Millionen Jahre alt ist, vielleicht plus minus eine Million. Und der ist dann sehr gut geeignet gerade für Datierungen, da kommt es natürlich auf möglichst große Präzision an. Es gibt über 30.000 beschriebene fossile Insektenarten, und von diesen Arten haben wir am Ende weniger als 40 Arten verwenden können für die Kalibrierung, weil wir einen sehr strikten Anforderungskatalog aufgestellt haben."
    Romantische Paarung zweier Schnaken im Sonnenuntergang
    Romantische Paarung zweier Schnaken im Sonnenuntergang (imago / Mark Wunsch)
    Winzige urtümliche Fliegen haben sich in dem Baumharz verfangen.
    Je älter die Fossilien, desto seltener stoßen Paläontologen darauf. Einen Fund aus dem Karbon von vor rund 310 Millionen Jahren vergleicht Rusts Mitarbeiter Dr. Torsten Wappler mit einem Lottogewinn.
    Wappler: "Dann hatten wir ja auch gesprochen über diesen Sechser mit Zusatzzahl. Nämlich dieses kleine Insekt, was man hier gefunden hat, und wenn man sich das unter dem Mikroskop anguckt, sieht das aus wie eine ganz normale Raupe. Mit den Beinchen und so, hier hinten, man sieht hier unten diese kleinen Stummelfüßchen noch so da dran."
    Es braucht ein geschultes Auge, um in dem kleinen grünen Klecks ein Fossil zu erkennen. Erst 2013 haben der Paläontologe und Kollegen den schwarzen Steinbrocken vom Piesberg in der Nähe von Osnabrück analysiert.
    Wappler: "Hier hat man eine Merkmalskombination, die eindeutig zeigt, dass wir hier ein holometaboles Insekt vor uns haben. Und halt ein wichtiger Kalibrationspunkt für den Stammbaum dann ist."
    Mit ihren Daten zeichnen die Forscher eine einmalige Erfolgsgeschichte nach. In der Kreidezeit, vor rund 120 Millionen Jahren, steuerte sie ihrem Höhepunkt zu.
    Das Land war grün - bis erste Blüten sprossen.
    Rust: "Das entscheidende Großereignis in jüngerer Zeit geologisch betrachtet, ist das Aufkommen der Angiospermen, der Blütenpflanzen."
    Wappler: "Wie dann im Falle mit den holometabolen Insekten dann eine komplett neue Nahrungsressource mit den Blütenpflanzen plötzlich zur Verfügung stand."
    Neue Wesen bewohnten die Erde und nährten sich von den Blüten. Bienen, Ameisen, Käfer, Fliegen und Schmetterlinge.
    Misof: "Die holometabolen Insekten sind außerordentlich bemerkenswert, weil sie einen neuen Modus ihrer Entwicklung erfunden haben."
    Rust: "Das ist mit der wichtigste Schritt in der Evolution der Insekten - das sind also die Formen, die eine vollständige Transformation durchmachen, so wie heute Schmetterlinge zum Beispiel, die sich dann verpuppen und dergleichen."
    Die Neuen konnten ruhen. Einen Winter über. Oder länger.
    Misof: "Und das macht wahrscheinlich auch den Erfolg dieser Tiere aus, weil sie dadurch widrige Lebensumstände sehr, sehr leicht überdauern können."
    Sie sahen die Dinosaurier kommen. Sie sahen, wie den Echsen Federn wuchsen.
    Rust: "Der älteste Vogel, den wir kennen, ist der Archaeopteryx aus dem Jura von Solnhofen, der ein bisschen älter als 150 Millionen Jahre ist."
    Ein Zwischenwesen. Noch mit Zähnen, schon mit Federn.
    Rahbek: "Erste moderne Vögel entwickelten sich vor 110 Millionen Jahren. Der Planet war tropisch, viel wärmer als heute."
    Jarvis: "Es gab damals Säugetiere, viele Vogelarten, natürlich Insekten. Die Kontinente waren anders angeordnet. Manche Pflanzen unterschieden sich von heutigen. Der größte Unterschied war natürlich: Es gab viel mehr Dinosaurier."
    Zwei Kolkraben (lat. Corvus corax) streiten sich im Schnee.
    Zwei Kolkraben (lat. Corvus corax) streiten sich. (picture alliance / ZB - Patrick Pleul)
    Auf der Suche nach den Urahnen aller Vögel
    Riesige Echsen wandelten auf der Erde. Und riesige Vögel.
    200 Wissenschaftler aus 80 Instituten in 20 Ländern haben 48 repräsentative Arten ausgewählt, um den Stammbaum der Vögel auf der Basis kompletter Genome neu nachzuzeichnen. Auch sie haben eine Erfolgsgeschichte rekonstruiert. Die Forscher wissen jetzt, dass der letzte gemeinsame Vorfahr aller modernen Vögel noch Zähne hatte - und sie einzusetzen wusste, sagt Professor Carsten Rahbek vom Naturkundemuseum im dänischen Kopenhagen.
    Rahbek: "Ein Terrorvogel mit Zähnen, doppelt so groß wie ein Mensch. Alle Raubvögel gehen auf ihn zurück. Die meisten seiner Nachkommen aber - Amsel, Drossel, Fink und Star - haben den Platz an der Spitze der Nahrungspyramide mit der Zeit verloren. Vor etwa 160 Milliarden Jahren ging in fünf Genen für die Zähne der Code für Zahnschmelz und Zahnzement zu Bruch. Von da an entwickelten sich Vögel mit Schnäbeln statt Zähnen."
    Mit den Schnäbeln konnten sie viel besser Früchte, Beeren und Samen fressen. Weitere Gene gingen verloren.
    Rahbek: "Ihr Skelett wurde leichter, die Knochen hohl. Das ist eine Voraussetzung fürs Fliegen. Die Schnäbel und der Flug machten sie zu den Herren der Lüfte."
    In diesen Verlusten liegt der Schlüssel für den Erfolg der Vögel.
    Rahbek: "Ihr Genom schrumpfte, das machte sie einfacher: Sie waren unglaublich gut ausgerüstet, um die Welt neu zu besiedeln. Eines der überraschenden Ergebnisse unserer Arbeit ist also: Manchmal ist weniger mehr."
    Stamatakis: "Das geht eigentlich ziemlich schnell, im Schnitt vielleicht zwischen 24 und 48 Stunden. Aber wir haben ja das Problem mit diesem großen Suchraum, also insgesamt haben wir 1000 bis 2000 solcher Bäume berechnet."
    Rust: Eine einzelne Kalibrierung liegt im Bereich von ja drei, vier Wochen.
    Stamatakis: "Man braucht letzten Endes richtige Höchstleistungsrechner. Unter richtigen Höchstleistungsrechnern, unsere Anwendungen kommunizieren sehr häufig, und dafür braucht man eben diese extrem verhältnismäßig teuren Netzwerke, die die Prozessoren miteinander verbinden."
    Alexandros Stamatakis, der Bioinformatiker, sagt: Ohne Hochleistungsrechner wie den Super-MUC am Leibniz-Zentrum in München wären diese Analysen unmöglich.
    Stamatakis: "Der Rechner hat ungefähr 150.000 Prozessoren insgesamt, und eben ein sehr schnelles Netzwerk, es müsste gegenwärtig so unter den schnellsten 20 Höchstleistungsrechnern weltweit sein."
    Der Super-MUC ist schnell, und er wird ständig schneller, wie auch andere Supercomputer in Deutschland und den USA. Aber, so Stamatakis: "Die Beschleunigung der Rechner ist langsamer als diese Datenflut, die durch diese Next-Generation-Sequencing-Technolgies auf uns zurollt, also da gibt es eine ganz klare Schere, die momentan auch weiterhin größer wird."
    Die Biologie wird von einer qualitativen immer mehr zu einer quantitativen Wissenschaft. Die Informatiker werden ihre Algorithmen weiter verbessern müssen. Bernhard Misof vom Museum König:
    "Wir wissen, dass in der Natur draußen nichts wirklich exakt irgendeiner Formel folgt, sondern nur ungefähr. Das heißt, bis heute wissen wir noch nicht genau, welchen Einfluss die Abweichung, die in natürlichen Daten enthalten ist, von unseren Annahmen auf die Rekonstruktion tatsächlich hat. Und das Interessante am 1KITE-Projekt ist nun folgendes: Größere Datenmengen für jede einzelne Art können wir eigentlich nicht mehr produzieren, das heißt, wo wir nurmehr Veränderungen erwarten können, ist im Bereich der Analyse und im Bereich der Verbesserung unserer Ansätze und der Algorithmen."
    Stamatakis und seine Kollegen arbeiten ohnehin daran, denn so ganz trauen sie ihren eigenen Algorithmen nicht über den Weg.
    "Das ist auch eines meiner Lieblingsthemen, es gibt durchaus die Möglichkeit, dass Ergebnisse auch falsch sein könnten, weil irgendwo in dieser langen Analysepipeline ein Softwaretool, das verwendet wurde, einen Programmierfehler hat. Und das ist eigentlich eins unserer nächsten Ziele, zu versuchen sicherzustellen, dass man auch irgendwie die Softwarequalität erhöhen kann."
    Ein Asteroideneinschlag soll das Ende der Dinosaurier verursacht haben.
    Ein Asteroideneinschlag soll das Ende der Dinosaurier verursacht haben. (Vrije Universiteit Amsterdam)
    Dann kam die Apokalypse.
    Rahbek: "Vor 66 Millionen Jahren wurde die Erde von einem Asteroiden getroffen."
    Ein Feuerball, zehn Kilometer groß. Die Erde rumorte.
    Rust: "Was es zeitgleich gab, ist ein enorm üppiger Vulkanismus in Indien."
    Der Himmel verdunkelte sich. Länder versanken unter glühender Lava.
    Rust: "Wir haben im Grunde ein sehr komplexes Gefüge von sehr starkem Vulkanismus, der Auswirkungen hatte auf die Atmosphäre, auf die Ozeane, aber auch natürlich auf die Lebensräume an Land, dann diesen Einschlag dort in Mexiko, in der Nähe von Yucatan noch obendrauf."
    Staub und Asche legten sich auf das Wasser und die Erde. Sie erstickten, was wuchs, wandelte und wimmelte. Es wurde kalt.
    Rahbek: "Das verursachte einen weltweiten Klimawandel und löschte mindestens die Hälfte aller bekannten Organismen aus. Vor allem die Riesen. Wie die Dinosaurier."
    Die Erde war wieder wüst und leer.
    Jarvis: "Alle Dinosaurier verschwanden - bis auf vier Linien der Vögel."
    In dieser dunklen Zeit lebte der Stammvater fast aller Vögel.
    Jarvis: "Das war vermutlich ein Generalist, der in vielen verschiedenen Lebensräumen gedeihen konnte."
    Vier Stämme der Vögel machten sich das Land, das Wasser und die Luft Untertan.
    Jarvis: "Viele Lebensräumen waren frei. Der Generalist bildete neue Arten, die sich ihre Nischen suchten. Es gab einen Big Bang für die Artenvielfalt. 95 Prozent der Vögel, die heute auf diesem Planeten leben, entstammen jener Epoche."
    Die Vögel brauchten gerade einmal 10 bis 15 Millionen Jahre, um die 10.000 Arten zu entwickeln, die heute leben. In evolutionären Maßstäben ist das eine extrem kurze Zeit.
    Zusätzlich zum Stammbaum haben sich die Forscher die Funktion einzelner Gene angeschaut: Erich Jarvis hat herausgefunden, dass drei Gruppen von Vögeln die Fähigkeit entwickelt haben, Laute zu lernen und nachzuahmen: die Papageien, die Singvögel und die Kolibris. Und obwohl sie das unabhängig voneinander getan haben, kamen dabei dieselben 20 Gene zum Einsatz.
    Jarvis: "Bei diesen Genen gleicht das Gehirn von Papageien, Singvögel und Kolibris dem menschlichen Gehirn stärker als dem von Vögeln, die keine Laute lernen können. Auch den nicht-menschlichen Primaten fehlen diese Gene."
    Damit eignen sich Singvögel als Modell für Sprachstörungen.
    Jarvis: "Wir denken, dass wir an diesen Vogelgenen erforschen können, warum diese Sprachdefizite auftreten, und letztlich auch, wie wir sie heilen."
    Und die Insekten? Der Paläontologe Jes Rust:
    "Grundsätzlich haben die Insekten nicht derart gelitten, sage ich mal, dass man da jetzt einen großen Einschnitt hätte."
    Die Insekten dienten fortan den Vögeln als Nahrung - und sie nahmen die Vögel und das ganze andere kleine Getier gerne als neue Ressource an: Anders als bislang behauptet, entstanden die Läuse erst nach dem Meteoriteneinschlag.
    Die genetischen Daten bieten Forschungsmöglichkeiten, die weit über den Stammbaum der Insekten hinausgehen. Bernhard Misof nennt als Beispiel Pestizide. Diese Gifte töten heute viele Pflanzen und Schadinsekten auf einmal:
    "Eigentlich ist das nicht das, was wir wollen. Wenn wir überhaupt Insekten oder Schadinsekten töten müssen, weil sie unsere Nahrungsressourcen gefährden, dann wollen wir nur spezifisch diese oder jene eine Art bekämpfen, die wirklich Schaden verursacht, und den Rest wirklich unbeschadet lassen."
    Mit den Gensequenzen könnte man jetzt auch die Evolution von Verdauungsenzymen oder Botenstoffen für das Nervensystem nachvollziehen, die Insekten dringend zum Leben brauchen.
    Misof: "Es ist denkbar, einzelne Insektizide zu entwickeln, die nur ein bestimmtes Zellgift darstellt für eine bestimmte Insektenart und sonst bei keiner anderen Insektenart wirken können, aufgrund der Tatsache, dass sie exakt nach den Erbanlagen konstruiert wurden."
    Um solche Projekte sollen sich jedoch andere kümmern. Mehr als 200 Forschergruppen haben sich die 1KITE-Daten schon besorgt. Doch auch die Arbeit am eigentlichen Projekt geht weiter: Bernhard Misof und seine Kollegen beginnen, sich die Ordnung der Zweige auf den einzelnen Ästen des Insekten-Lebensbaums genauer anzuschauen.
    Eine Honigwabe mit Arbeitsbienen
    Eine Honigwabe mit Arbeitsbienen (picture-alliance/ ZB)
    Am Museum König in Bonn zum Beispiel die Hautflügler, die Hymenoptera, also Bienen, Wespen und Ameisen.
    Misof: "Diese drei Gruppen gehören sicher zu den faszinierendsten Insekten überhaupt, denn sie haben eine große ökologische Diversität evolviert, und zusätzlich ist innerhalb der hymenopteren Insekten die sogenannte Eusozialität entstanden. Das heißt, das sind Tiere, die in Gesellschaften leben."
    Man wisse bis heute nicht, wann, wo und wie diese Eusozialität entstanden ist.
    Misof: "Wir wissen bis heute noch nicht, wie die ungeheure ökologische Effizienz von Ameisen entstanden ist, welche Arten nächstverwandt mit den Ameisen sind, die diese ökologische Effizienz noch nicht aufweisen, das sind alles Dinge, die innerhalb des Hymenopteren-1KITE-Projekts, ich nehme mal an, gelöst werden."
    Die Zukunft des Projekts liegt auch in der Vergangenheit, in Insektensammlungen wie der des Museums König.
    Misof: "Wir kommen hier in die Schmetterlingssammlung, sie beinhaltet etwa zwei Millionen Einzelindividuen."
    Bis unter die Decke reichen die hellbraunen Schränke mit Schubladen. Bernhard Misof zieht eine heraus, in der zig kleine dunkle Falter mit leuchtend roten Punkten in ordentlichen Reihen aufgespießt sind: Blutströpfchen.
    Misof: "Die sind hier, da muss ich eine suchen, in einer Lade, finde ich natürlich nicht gleich die richtige, doch, in dem Fall stimmt es sogar. Von solchen Individuen aus der Sammlung haben wir einzelne Beine entnommen und mit diesen Beinen wurden dann einzelne Teile der Erbanlagen extrahiert und sequenziert und bestimmt. Und das macht den Wert von solchen Sammlungen aus, denn wir müssen nicht notwendigerweise neu in die Natur hinausgehen um Individuen neu zu töten und zu sequenzieren."
    Auf diese Weise können die Forscher auch Tierarten untersuchen, die inzwischen ausgestorben sind.
    Heute ist die Erde dem Menschen untertan. Er hat sie urbar gemacht und ausgebeutet.
    Rahbek: "Jetzt schauen wir uns an, wie die Vögel in der Vergangenheit mit den Herausforderungen von globalem Wandel umgegangen sind. Das ist sehr relevant wegen des Klimawandels und den Veränderungen der Landnutzung auf der ganzen Welt."
    Stamatakis: "Ich würde jetzt nie ausschließen, dass da irgendwo Fehler passiert sind, man sollte einfach vorsichtig sein, und ich glaube, das charakterisiert auch Wissenschaftler generell, dass sie immer sehr vorsichtig sind, wenn sie irgendwelche Ergebnisse formulieren, möglichst versuchen, das nicht als die absolute Wahrheit darzustellen."
    Rust: "Meine Vorhersage wäre mal, dass wenn wir über 1000 Arten nachher tatsächlich haben, wir einen Baum damit erstellen, dass es dann noch mal wieder Unterschiede gibt."
    Jarvis: "Ich sage nicht, er sei endgültig. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir schon jetzt ziemlich nahe an der Wahrheit sind. Vielleicht zu 80 Prozent oder zu 85 Prozent."
    Wappler: "Wahrscheinlich verschieben sich die ein oder anderen Knoten dann vielleicht noch ein paar Millionen Jahre nach vorne, nach hinten, und so denke ich mal, kommt man dann Schritt für Schritt einem wirklichen Baum des Lebens der Insekten ganz nahe."