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Bionik
Von der Kieselalge zur Autofelge

In seinem Buch "Kunstformen der Natur" zeigte Ernst Haeckel schon um 1900 die komplexen symmetrischen Strukturen von mikroskopisch kleinen Planktonlebewesen aus dem Meer. Diese Plankton-Organismen – Kieselalgen und Radiolarien – dienen heute als Modelle für ein bionisches Verfahren, an dem Christian Hamm vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven arbeitet.

Von Valérie Schmitt | 05.06.2014
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    Kieselalgen unter dem Lichtmikroskop. (Alfred-Wegener-Institut, Friedrich Hustedt)
    In der Kieselalgen-Sammlung im Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven findet Dr. Christian Hamm Inspirationen für seine bionischen Produkte. Die Regale sind gefüllt mit Glasröhrchen und Objektträgern – über 100.000 Präparate und Proben von Kieselalgen zählt die Sammlung inzwischen. Ursprünglich stammt sie von dem Lehrer und Kieselalgenforscher Friedrich Hustedt, der dafür sorgte, dass sein Lebenswerk nach seinem Tod 1968 interessierten Wissenschaftlern zugänglich wurde.
    "Eine Kieselalge ist ein einzelliger Organismus, also nur eine Zelle, die Fotosynthese betreibt und die sich umgibt mit einem Panzer aus einer Art Glas, also Silikat, und dieses Silikat ist eben transparent und ist unglaublich komplex gebaut - das sind wirklich fantastische Strukturen."
    Diese Strukturen dienen Christian Hamm als geometrische Vorbilder für Leichtbaukonstruktionen – ein Verfahren, das er "Evolutionary Light Structure Engineering" nennt.
    "Wir haben vor zehn Jahren angefangen, darüber nachzudenken, diese fantastischen Prinzipien aus der Natur zu übertragen in die Technik."
    Ursprünglich stieß der Biologe bei seiner Planktonforschung auf die besonderen Eigenschaften der Kieselalgen, durch die sie Vorbilder seines Leichtbauverfahrens geworden sind.
    "Wenn man als Kieselalge im Ozean schwebt, dann hat man eine sehr geringe Konzentration an Nährstoffen um sich rum, und da muss man einfach ganz offen sein, gleichzeitig muss man extrem stabil sein. Und leicht müssen Sie sein, weil der Werkstoff, dieses Silikat das Sie einsetzen, ja schwerer ist als Seewasser und Sie würden dann absinken, wenn Sie eben sich einfach nur mit einem schweren Panzer umgeben würden."
    Absinken dürfen die Kieselalgen jedoch nicht, denn sie benötigen das Sonnenlicht in den oberen Wasserschichten, um Photosynthese zu betreiben. Einen Panzer brauchen sie aber auch.
    Hamm: "Die Kieselalgen schweben ja im Wasser, sind völlig ungeschützt, haben nichts wo sie sich im Wasser verstecken können, werden aber sehr häufig angegriffen, vor allem von Ruderfußkrebsen, die im Vergleich Riesenkauwerkzeuge haben, Und dagegen müssen die sich so gut wie möglich schützen und das tun sie, indem sie Panzer bauen."
    In einer neuen Studie untersuchte Christian Hamm mit seinem Team, wie effektiv diese Panzer funktionieren:
    "Wir haben dann natürlich auch Crash-Tests mit den Mikroalgen durchgeführt."
    Für einen Crash-Test mit einer Mikroalge drücken die Forscher mit einer winzigen Glasnadel auf die aus einer Zelle bestehende Kieselalge – beziehungsweise auf deren Panzer. Die Glasnadel eichen die Wissenschaftler, so dass sie wissen, welche Neigung einer gewissen Kraft entspricht.
    "Und wir sehen dann, was so ein Panzer aushalten kann, und das ist unglaublich, weil, also wenn man jetzt den Wert nimmt – sagen wir mal 300 bis 1000 Mikronewton, das klingt überhaupt nicht viel, aber wenn man das umrechnet auf Druck, dann sind das 300 bis 1000 Tonnen pro Quadratmeter – und das ist wirklich viel."
    Die Erklärung für die außergewöhnliche Stabilität der winzigen Planktonorganismen sieht der Biologe in ihren komplexen Strukturen. Innerhalb der Kieselalgen, die rund, oval, dreieckig, viereckig oder auch zylindrisch sein können, formen sich vielfache Unterstrukturen aus.
    "Diese Wabenstrukturen – kennt man ja aus Luft- und Raumfahrt – sind einfach sehr universell, fest, stabil, leiten die Kräfte gut weiter."
    Die Wabenstrukturen dienten dem Bionik-Forscher und seinem Team als Vorbild für eine Armschiene aus luftdurchlässigen Waben als atmungsaktive Stützung nach Knochenbrüchen, die bislang jedoch nur als Modell vorliegt. Auch das Modell einer gewichtsreduzierten Kopfstütze für Autositze haben die Wissenschaftler mit wabenartigen Strukturen konstruiert. Bei der Entwicklung einer Leichtbau-Autofelge in Faserverbundwerkstoff brachte eine Kieselalge mit einer anderen Struktur die Lösung für das generelle technische Problem, dass die Speichen eines Rades einknicken können: Deren Bauplan mit vielen konzentrischen Ringen und kurzen Zwischenspeichen übertrugen die Bioniker auf das Modell der Autofelge. Das Projekt wurde wohl zunächst gebremst durch den TÜV.
    "Weil die Prüfverfahren, die für Metallfelgen Stand der Technik sind, ließen sich nicht umsetzen für Kunststofffelgen. Das Problem wurde aber aktuell behoben, und wir sehen jetzt zu, dass wir das Thema wieder aufnehmen und dass wir da eben mit den entsprechenden Herstellern in Kontakt kommen."