Mittwoch, 24. April 2024

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Bis Blut kommt

Nur spärlich fließt in Calixto Bieitos "Carmen"-Inszenierung Blut und Sperma. Wer nach der Berliner Mozart-"Entführung" des katalanischen Regisseurs, bei der zugleich Mangel an Kleidung und Überfluß an menschlichen Exkrementen auffielen, eine Steigerung der Entkleidung, der Gewalttätigkeiten und der Überformung durch schöne neuere Welten erwartete, wird von der in Antwerpen gezeigten neuen Produktion eher enttäuscht. Sie folgt, ohne sich Transpositions-Kühnheiten herauszunehmen, im wesentlichen dem Libretto. Lediglich wurde die Handlung - wie es inzwischen Standard ist - vom mittleren 19. in das fortgeschrittene 20. Jahrhundert versetzt. Aber das bedeutet ja, dass die Sache noch immer als eine historische anzusehen ist und von einem gewissen nostalgischen Aroma profitiert.

Von Frieder Reininghaus | 11.12.2004
    Nora Gubisch, in Existentialistenschwarz gekleidet, tritt also nicht aus der legendären Tabakmanufaktur von Sevilla, die längst als Universitäts-Hauptgebäude dient, sondern aus einem spanischen Telefon-Häuschen der 1970er Jahre, als die Franco-Diktatur in ihren letzten Zügen lag.
    Im Hauptfeld der Bühne ein leeren Vielzweck-Areal mit fein strukturiertem Boden: erst Exerzierplatz, auf dem angetreten und geschunden wird; dann öffentlicher Raum für die Erregung der Arbeiterinnen oder die Gastronomie des Lilas Pastia; des weiteren Aufmarsch-Terrain der Schmuggler und schließlich Vorplatz der Stierkampf-Arena.
    Die Soldaten erscheinen als ganz normales militärisches Personal, nicht als falangistische Bestien. Es wird nur ein bisschen mit der Peitsche gewippt und geschliffen - dass einer dabei tot umfällt, ist halt ein Kollateralschaden. Überhaupt zeigt Bieito die dem Stück inhärente Gewalttätigkeit genau, steigert sie aber nicht zum Exzess; ja, die Messerstecherei der Carmen am Anfang wird sogar absichtsvoll übersehen. Ebenso wird das andalusische Kolorit zwar zurückgenommen, jedoch nicht gänzlich verbannt. Die Ausstattung von Alfons Floros beschwört nicht Metaphern des Sevilla von 1875, sondern eben Bildmomente von 1975. Ein Clochard zeigte sich zur Ouvertüre auf der öden Fläche - er kehrt wieder als Faktotum der Kneipe, die Bieito als Ausschank aus dem Kofferraum eines alten Benz zeigt, und als Platzwart der Arena. In Gestalt von Rosita Kekyte erscheint Don Josés Jugendliebe Micaela mit sauberen Jeans und Glitzerbluse als frisch geföhnte Jungfrau vom zurückgebliebenen Lande: rollt mit den Augen und nimmt die Gruß- und Kuss-Botschaft der Mutter allzu wörtlich als Gelegenheit zum Anbändeln einer Beziehung, die auf ordentliche Familiengründung hin angelegt ist und unverzüglich vom Fotoapparat dokumentiert wird. Dass Don José bei einer der Schwankungen seines Herzens den Film herausreißt, beglaubigt seine Bereitschaft zum Abenteuer mit Carmen, die ihm, das wohlanständige Muttersöhnchen, [Musik 2 ab] ja wirklich eine neue Welt der Erotik und "wilder Freiheit" eröffnet.

    Minutiös richtet sich das detailversessene Inszenieren von Calixto Bieito auf die kleinen Gesten der Geschlechter zueinander, die Zeichen der Zuwendung und Spannung, der handfesten Begierde und des nicht minder handfesten Streits. Ebenso auf das Verhältnis der Geschlechtsgenossinnen oder -genossen untereinander, all das Gewimmel in Solidarität und Tumult: Wie sie sich annähern und berühren, ab- und umstossen und wie das Fleisch dann aufprallt. Prosper Mérimées und George Bizets Zigeuner und Schmuggler fahren Diesel-Benz; Modelle der 70er und 80er Jahre. Auf Bergeshöhen zeigt sich der Osborne-Stier - und die Riesenreklame fällt mit einem bedrohlichen Schlag vornüber in Richtung des Orchesters, das unter der umsichtigen Regie von Ivan Törzs mit eben jenem Schlag zur Volksfest-Musik einsetzt. Mit der kommen die Andalusier zu sich selbst, indem sie aus dem Häuschen geraten. Don José bekanntlich so weitgehend, dass er Carmen die Kehle durchschneidet. Ob er für diese Straftat als zurechnungsfähig angesehen werden kann, wird im Verlauf des Opernabends nicht geklärt. Bieitos Inszenierung legt nahe, dass ihm mildernde Umstände zuerkannt werden sollten.