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Bis die Bettpfosten wackeln

Die "Ilias" gehört zu den einflussreichsten Werken der Weltliteratur, doch sie tatsächlich zu lesen, erfordert Anstrengung. Vielleicht wäre die zeitliche Ferne kein so großes Hindernis, schließlich hat die Geschichte etwas von Fantasy. Nein, das Dilemma sind die Übersetzungen. Die Klassische stammt von Johann Heinrich Voß und sie gibt dem zeitgenössischen Leser Rätsel auf. Was ist ein "räumiges Schiff"? Was macht jemand, der "anitzt hier zaudert"?

Von Frank Olbert | 20.12.2008
    Wer nicht auf schülerfreundliche Nachdichtungen wie die von Walter Jens zurückgreifen will, der muss durch jede Menge Staub. Der Hessische Rundfunk hat nun gemeinsam mit dem Deutschlandfunk, dem Hanser-Verlag und dem Hörverlag eine aufwändige Neuübersetzung ermöglicht. Raoul Schrott, der bereits das Gilgamesch-Epos neu übersetzt hat, wurde damit beauftragt. Zusammen mit dem Schauspieler Manfred Zapatka hat Regisseur Klaus Buhlert eine Hörspielfassung erarbeitet.

    In seiner Neufassung hat Schrott die oft formelhafte Sprache des Originals in ein zeitgenössisches Deutsch verwandelt, eine Annäherung, die mancher Altphilologe nicht nachvollziehen mag, unter anderem der Gräzist Joachim Latacz, der zur Zeit selbst an einer "Ilias"-Übersetzung arbeitet. Manfred Hess hat das Übersetzungsprojekt beim Hessischen Rundfunk betreut.
    Frank Olbert: Herr Hess, wie gefällt Ihnen Schrotts zum Teil recht deftige Sprache?
    Manfred Hess: Ganz offen gestanden: sie gefällt mir ausgezeichnet. Natürlich habe ich auch manchmal meine Bedenken, die sich im Laufe der Arbeit eingestellt haben, aber die Grundvoraussetzung für die Arbeit von Raoul Schrott war, dass ich ihn gefragt habe: Lieber Herr Schrott, schreiben Sie mir doch bitte eine neue Übersetzung der "Ilias" von Homer, die für ein zeitgenössisches Publikum geschrieben ist und die als Hörspiel verfolgt werden kann. Die rein akustische Rezeption verlangt eine größere Eingängigkeit als ein gedruckter Text, in dem man zurückblättern und nachlesen kann.
    Olbert: Schrotts Übersetzung hat eine richtige Debatte entfacht. Zuletzt meldete sich der Gräzist Joachim Latacz in der Wochenzeitung "Die Zeit" zu Wort. Können Sie die Kritik an Raoul Schrotts sprachlicher Aktualisierung nachvollziehen?
    Hess: Selbstverständlich kann ich die Kritik nachvollziehen. Wenn man eine Interlinearversion nach dem neuesten Stand der Forschung haben möchte, muss man eine wissenschaftliche Übersetzung nehmen, die aber gewiss keine dichterischen Qualitäten hat. Da ist eine kommentierte Übersetzung wie Latacz sie vorlegt für den wissenschaftlichen Gebrauch sinnvoller und angemessener. Aber wenn wir Programm machen, sind wir an einem größeren Publikum interessiert. Das sind zwei verschiedene Diskurse. Das eine ist für ein größeres Publikum, wissenschaftlich abgesichert, und das andere ist für ein Publikum, das sich berufsmäßig mit der "Ilias" beschäftigt.
    Olbert: Sehe ich das richtig: Sie plädieren also für zwei "Ilias"-Sphären, eine wissenschaftliche und eine literarische?
    Hess: Die Schadewaldtsche und die Voß'sche Übersetzung sind wissenschaftlich bestimmt auch nicht hundertprozentig abgesichert. Jede Generation hat ihre "Ilias"-Übersetzung, denn so genau wird man das Altgriechische nicht mehr eruieren können, als dass man eine hundertprozentig verbürgte Übersetzung findet.
    Olbert: Wenn man von diesem Ansatzpunkt ausgeht, eine für das heutige Publikum attraktive Fassung zu erarbeiten, warum dann keine Nachdichtung?
    Hess: Sie sprechen hier wirklich die Krux dieser Geschichte an. Eine Nachdichtung würde den Dichter Raoul Schrott ins Zentrum rücken. Hier geht es aber darum, Homers "Ilias" nahezubringen. Die "Odyssee" wird häufig gelesen, sie ist bekannt, aber die "Ilias" kennen wirklich die wenigsten Leute. Wir waren verpflichtet, diesen altgriechischen Text zu retten und so weit es möglich ist, im Original einem Publikum entgegenzubringen. Wir wollten keine Vermischungen machen, deswegen haben wir auch keine Zeile gestrichen. Wir haben auch bewusst altgriechische Passagen drin gelassen, damit immer wieder der Verweis zum Originaltext vorhanden bleibt.
    Der Deutschlandfunk hat die ersten sieben Gesänge der "Ilias" bereits zu Weihnachten und Neujahr 2007/2008 gesendet. Eine Zusammenfassung dieser Gesänge und einen Werkstattbericht bringt der Deutschlandfunk an Heiligabend 2008 um 14.05 Uhr. Um 15.05 Uhr schließt der achte Gesang an. Dann folgen bis Neujahr täglich um 14.05 und um 15.05 die restlichen 16 der insgesamt 24 Gesänge.

    Bei RB Nordwestradio startet die "Ilias"-Reihe mit dem ersten Teil am Ersten Weihnachtstag um 22:05 Uhr. Teil 2 folgt am selben Abend um 22.55 Uhr.