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Bizarrer PR-Roman

Die "Kohle-Saga" von Rafael Seligmann ist ein Zwitter. Sie ist das, was man heute erzählendes Sachbuch nennt, und sie ist ein Familien- und Generationenroman, eine Saga eben, wie sie vor allem in der Unterhaltungsliteratur hoch im Kurs steht. In den letzten Kapiteln kommt noch ein drittes Genre hinzu: die Firmenfestschrift. Hier geht es um die Gründungsgeschichte des Auftraggebers, der Ruhrkohle AG.

Von Gernot Krämer | 14.03.2007
    Der Untertitel von Rafael Seligmanns neuem Buch "Die Kohle-Saga" klingt recht forsch: nicht ein, sondern gleich "Der Tatsachenroman aus dem Revier" soll es sein. Über ihn konnten sich Weihnachten 2006 die Mitarbeiter der Ruhrkohle AG freuen. Das Unternehmen hatte den Roman bei Seligmann in Auftrag gegeben und sorgte mit der Verschenkaktion für eine Startauflage von 80.000. Normalerweise ist bei dieser Größenordnung ein Platz auf der "Spiegel"-Bestsellerliste garantiert. Aber hier handelte es sich nicht um eines der meistverkauften Bücher, sondern um eines der meistverschenkten. Was ist das für ein Roman?

    Über fast hundert Jahre, von 1884 bis 1969, begleitet Seligmann die Familie Bialo. Wie so viele im Ruhrgebiet geht sie auf Zuwanderung zurück, hier auf den von zu Hause weggelaufenen polnischen Bauernjungen Leszek, der sich Leopold nennt, als er in Herne Arbeit findet. Es ist eine für die damalige Zeit wohl typische Bergmannsfamilie: Zwei-Zimmer-Wohnung in der Zechensiedlung, Nutzgarten, Milchkuh, Taubenzucht.

    Mit dieser Familie, an ihrem Beispiel, erzählt Seligmann die Geschichte des Ruhrgebiets, was schwer möglich ist, ohne die Geschichte Deutschlands zu erzählen. Für den promovierten Historiker ist das Kür: Er berichtet von der Sozialpolitik der Kaiserzeit, von Arbeitskämpfen und Grubenunglücken, von der Mangelwirtschaft im Ersten Weltkrieg, von Revolution und Ruhrbesetzung, Weimarer Republik und NS-Diktatur, Zwangsarbeit, Bombennächten, Wirtschaftswunder, eine große Zusammenschau von Politik, Wirtschafts-, Alltags- und Sozialgeschichte.

    Das ist oft eindrucksvoll. Aber es hat seinen Preis: In diesem Roman ist alles typisch. Weil jede Figur eine gesellschaftliche Kraft oder Haltung verkörpert, muss in der Familie Bialo oder in ihrem Umfeld alles einmal vorkommen: der aufrechte Sozialdemokrat, der erst der Kriegsbegeisterung von 1914 und dann den Naziparolen widersteht, bis er aus Verbitterung zum alten Muffkopp wir, der feige NS-Karrierist, der nach dem Krieg wieder Oberwasser hat und ohne Skrupel weitermacht - natürlich auf dem Schwarzmarkt und später als Staubsaugerfabrikant, die Hebamme, die im Dritten Reich ihre Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft bewahrt - und natürlich Renata heißt, die Wiedergeborene. Die Figuren sind völlig unambivalent, sind keine Individuen, sondern Klischees. Entsprechend vorhersehbar ist das, was sie tun. Die Charakterisierung wirkt oft schablonenhaft, der Erzählton ist ungeschmeidig, um nicht zu sagen hölzern:

    "Renata verbrachte eine glückliche Kindheit. Die Liebe Zosias und ihres Vaters, die Zuneigung ihrer Brüder und die Fürsorglichkeit Samuel Rubinsteins förderten ihre Vitalität und Fröhlichkeit. Das Großwerden mit den Haustieren gab ihr eine Verbundenheit mit der Natur, die kaum ein anderes Bergmannskind in Herne genießen durfte."

    Die auffälligste Besonderheit des Romans dürften die enorm vielen Zahlen und Daten sein. Ein paar Beispiele: Nach der Reichsgründung kosteten Bergbauaktien 127,50 Mark; Ende 1943 gab es 222.538 russische Zwangsarbeiter in den Zechen an der Ruhr; im Hungerwinter 1945 bekamen die Bergarbeiter tägliche Rationen von 4000 Kalorien; bei der Landtagswahl am 20. April 1946 gewann die CDU 37 Prozent der Stimmen. Es ist das reinste Geschichtslehrbuch.

    Die Kohle-Saga ist ein Kompromiss, ein Zwitter: Sie ist das, was man heute erzählendes Sachbuch nennt, und sie ist ein Familien- und Generationenroman, eine Saga eben, wie sie vor allem in der Unterhaltungsliteratur hoch im Kurs steht. In den letzten Kapiteln kommt noch ein drittes Genre hinzu: die Firmenfestschrift. Hier geht es um die Gründungsgeschichte des Auftraggebers, der Ruhrkohle AG. Unparteilichkeit kann man Seligmann nicht vorwerfen:

    "Mitte der 50er Jahre war die Ruhrsteinkohle Deutschlands Lebensblut gewesen. Doch nunmehr glaubten blasse Theoretiker und Ökonomen ohne Weitblick, die deutsche Kohle sei lediglich ein Luxusartikel. Böse Stimmen bezeichneten sie gar als 'Anachronismus, der sich selbst überlebt hat wie Kerzenlicht'. Diese Schlaumeier vergaßen dabei die langfristigen volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Die erste unmittelbare Folge war der Verlust von 320.000 Arbeitsplätzen in weniger als einer Dekade."

    Ein paar Seiten weiter heißt es:

    "Am 1. Januar 1969 nahm die Gesellschaft, deren Hauptsitz in der Ruhrmetropole Essen war, ihre Tätigkeit auf. Seit diesem Tag führten die Gründungsgesellschaften die Schachtanlagen und weitere einzubringende Betriebe 'im Namen und für Rechnung' der Ruhrkohle AG. [...] Aufgabe der Ruhrkohle AG war, durch eine systematische Zusammenfassung der Zechen und ihre einheitliche Verwaltung sowie den gemeinsamen Absatz der Kohle die Zukunft der Steinkohle, des Reviers, aber auch des Industriestandortes Deutschland zu gewährleisten."

    Das klingt nun wirklich wie aus einer Presseerklärung abgeschrieben. Erst am Schluss wird es wieder gefühlig: Das Happy End des Romans besteht in zwei glücklichen Ereignissen: dem endlichen Gelingen der Vereinigung der Ruhrgebietszechen in der Ruhrkohle AG und - Symbol, Symbol! - der gleichzeitig stattfindenden Hochzeit Renatas. Da singt zunächst ein Kinderchor Wagners Hochzeitsmarsch "Treulich geführt", dann greift ein Bergmann in die Tasten und singt "Glück auf, der Steiger kommt". Alle stimmen ein. Es ist ein richtiges Operetten-Finale.

    Warum dieser bizarre PR-Roman? Und warum gerade jetzt? Die Erklärung ist wohl, dass wieder einmal die Zukunft der Steinkohlesubventionierung auf dem Spiel steht. Die letzten Wochen haben gezeigt, wie brisant das Thema ist. Da kann ein bißchen literarische Imagepflege offenbar nicht schaden. Der Nutzen fürs Image dürfte freilich größer sein als der für die Literatur.

    Rafael Seligmann: Die Kohle-Saga
    Verlag Hoffmann & Campe, 368 Seiten, 19,90 Euro