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Björn Kuhligk: "Großraumtaxi"
Unpathetisches Denkmal für schräge Originale

Seit dem Mauerfall wurde in den Feuilletons immer wieder der große deutsche Berlin-Wende-Roman gefordert. Den legt Björn Kuhligk mit seinem "Großraumtaxi" auch nicht vor. Doch er beschreibt ein Gentrifizierungs-Berlin der schrägen Originale und stillen Helden, denen sein Buch ein unpathetisches Denkmal setzt.

Von Gisa Funck | 24.02.2015
    Taxis stehen am Flughafen Berlin
    Nicht nur Pädagogik-Studierende am Steuer: Taxis stehen am Flughafen Berlin (picture alliance / ZB / Britta Pedersen)
    Er ist wieder da, nachdem er in unserer schnelllebigen Gegenwart lange als Auslaufmodell galt: der nachdenklich herumstreunende und seine Beobachtungen notierende Straßenschlenderer. Vor allem in Berlin erlebt der Metropolen-Wanderer ein erstaunliches Comeback. So veröffentlichten kürzlich Annett Gröschner, Ilma Rakusa oder David Wagner persönliche Spazier-Erfahrungen aus der sich rasant wandelnden Hauptstadt. 2011 wurde zudem Franz Hessels Buch "Spazieren in Berlin" von 1929 aufgelegt und als Wiederkehr des Flaneurs bejubelt.
    Die literarische Stadterkundung zu Fuß liegt also plötzlich wieder im Trend. Vielleicht, weil die seit dem Mauerfall ständig mit Veränderungen konfrontierten Berliner ein besonders ausgeprägtes Bedürfnis nach Selbstvergewisserung haben. Vielleicht aber auch, weil die Bewohner virtueller Räume sich wieder mehr für das interessieren, was direkt vor ihrer Haustür passiert. Jedenfalls liegt mit Großraumtaxi nun schon das nächste Schlenderbuch vor. Björn Kuhligk, Jahrgang 1975, hat es geschrieben, der bislang vor allem als Lyriker in Erscheinung trat. 62 Skizzen aus dem Berliner Alltag hat er in Großraumtaxi versammelt. In der Regel nur anderthalb oder zwei, selten mal zehn Seiten lang. Vorher waren sie als Kolumnen in der taz abgedruckt und beschreiben vor allem die Veränderungen in Kuhligks Wohnbezirk Kreuzberg/Neukölln. Denn gerade dieser Stadtteil Berlins erlebt zurzeit eine derart radikale Verwandlung, dass man ihn schon in Kreuzkölln umgetauft hat. Noch vor zehn Jahren galt die Gegend zwischen Kottbusser Damm, Wiener Straße und Sonnenallee als sozial problematisch. Inzwischen aber zieht es junge, zahlungskräftige und kreativ ambitionierte Hipster gleich scharenweise hierhin. Ebenso wie Touristen, die sich den neuen Hotspot der Hauptstadt natürlich nicht entgehen lassen wollen. Eine Aufwertung des Kiezes, die der alteingesessene Kreuzberger Björn Kuhligk allerdings mit Skepsis betrachtet:
    "Wir liefen vom Kottbusser Tor die Graefestraße hinunter, vorbei an zwei, drei Orten, vor denen Menschen saßen, die vielleicht noch nie in Spandau oder Lichtenberg gewesen waren. Dann waren wir vor einer meiner alten Stammkneipen. (...) Sie war überfüllt. Der riesige Plastikbaum, der in der Mitte des Raumes stand und alles mit seinem dichten Plastiklaub zu beschützen schien, war verschwunden. Studenten, mehrere Schriftsteller, die wir kannten und begrüßten, ein Lektor, ein Agent, ein Journalist. Herrje, sie waren alle gekommen und hatten diese wunderbar versiffte Kneipe zerlegt! Aber wo, verdammt, wo waren die Säufer hin? Ich sondierte den Raum. Da war noch einer. (...) Ich stellte mich neben ihn und fragte: "Was is'n hier passiert?" Er sah mich lange aus glasigen Augen an und sagte: "Weeß ick ooch nich".
    Soziologen würden an dieser Stelle nüchtern von "Gentrifizierung" sprechen. Stadt-Schlenderer Kuhligk ist in Großraumtaxi melancholischer und schaut genauer hin, wie Dinge, Menschen und Orte in seiner Umgebung verschwinden und durch andere ersetzt werden. Da klingt dann zwar manchmal auch Wehmut mit, glücklicherweise aber nie Heimatverklärung. Eher staunend als wertend registriert Kuhligk, wie das alte, verratzte, oft mürrische Schluffi-Berlin heute zunehmend einem jung-dynamischen, touristenfreundlichen Hipster-Berlin weichen muss. Was mitunter zu kuriosen Zusammentreffen beider Welten führt. Etwa dann, wenn die Kleindealer in der Hasenheide ihre Drogen gleich neben dem Streichelzoo verkaufen und vor entsetzten Eltern den Spielplatz als Toilette zu benutzen. Oder wenn ein
    "Kamikazee-Hipster mit Jutebeutel und Kokain-Chic-Klamotten"
    ... an einem Imbiss Englisch spricht, obwohl er offenbar bestens Deutsch versteht. Oder wenn fünf Touristen aus dem Rheinland sich in Kreuzberg das titelspendende Großraumtaxi bestellen, vorher aber unbedingt noch ein Kölsch trinken wollen:
    "Das Großraumtaxi kommt, als das Kölsch kommt. Einer der fünf kofferschleppenden Rheinländer fragt den Taxifahrer, der ein Palästinensertuch um den Kopf gewickelt trägt, ob die Gruppe das Bier mit ins Taxi nehmen könne. Der Taxifahrer schüttelt fassungslos den Kopf: "Ey, du bist doch hier nicht in Wuppertal!" Und fährt weg."
    Anders als etwa David Wagner in seinem Berlin-Buch verzichtet Kuhligk in Großraumtaxi weitgehend auf historische Verweise. Das kann man bedauern. Es tut dem Lesegenuss seiner Berliner Szenen aber keinen Abbruch. Ähnlich wie sein Vorbild Jörg Fauser ist Kuhligk eher ein, dem Augenblick verpflichteter Bordsteinreporter denn ein räsonierender Spaziergänger. Allenfalls auf die 1990er- Jahre blickt er im Buch zurück, als Kreuzberg wegen der 1.-Mai-Demos noch im Ruf eines wilden Anarcho-Viertels stand. Ansonsten sitzt der Autor, obschon Vater zweier kleiner Kinder, viel in Kneipen herum und nimmt bevorzugt diejenigen in den Blick, die bei Berlins Entwicklung zur Metropole nun immer mehr auf der Strecke bleiben: die Sozialverlierer, Tresen-Philosophen, Prekär-Existenzen. Da berichtet Kuhligk dann mal von der schnoddrigen Grandezza einer Wirtin, die kein Lob für ihre Buletten will und jeden Hardcore-Säufer zum Schweigen bringt. Oder von einer Undergroundband, die sich als "schwere Melancholiker" outen. Oder von einem Penner, der sich ausschließlich von Astronautenkost ernährt. Oder auch vom Zeitungsboten Jens, den Kuhligk ein paar Tage auf seiner Tour durch Kreuzberg begleitet – und der ziemlich dubiose Tricks auf Lager hat:
    "Es war halb vier morgens. (...) Jens zog einen Plastikstreifen aus seiner Army-Hose, ging zur Haustür, vor der wir standen, schob ihn oberhalb des Schlosses zwischen Tür und Rahmen und zog ihn, während er mit dem Fuß gegen die Tür drückte, ruckartig nach unten.
    "So ein Ding brauchst du auf jeden Fall, wir haben nicht für alle Türen Schlüssel. Mit dem Ding kommst du fast überall rein. Kauf dir 'ne Fanta oder 'ne Coke. Eineinhalb-Liter-Flasche. Keine Ein-Liter-Flaschen. Die Großen sind aus dem richtigen Material. Mit dem Teppichmesser schneidest du dir das raus, muss genauso aussehen!" Er hielt mir den Plastikstreifen viel zu nah vor die Augen."
    Seit dem Mauerfall wurde in den Feuilletons immer wieder der große deutsche Berlin-Wende-Roman gefordert. Und es wurden in den letzten zwei Jahrzehnten dann auch so einige, mitunter hochgelobte Berlin-Romane geschrieben. Trotzdem ist längst klar, dass das Zusammenwachsen der deutschen Hauptstadt als Symbol für das Zusammenwachsen der Nation letztlich ein work in progress ist und in seiner Komplexität wohl nie ganz in einem Roman abgebildet werden kann. Großraumtaxi von Björn Kuhligk kann man insofern als Fortschreibung der immer noch nicht auserzählten Berlin-Wiedervereinigungs-Geschichte lesen. Die ist umso fesselnder und interessanter, als hier gerade die rauen, harten, aber auch kuriosen und schnoddrig schönen Seiten der Hauptstadt geschildert werden. Kuhligk erzählt von einem Berlin fern der ökologisch korrekten Bionade-Eltern und netz-euphorischen Laptop-Bohemiens. Ein Arme-Schlucker-Berlin, das stellenweise erstaunlich viel Ähnlichkeit mit dem Sponti-Westberlin vor dem Mauerfall besitzt. Zugleich aber zeigt er auch ein Berlin der Überlebenskünstler, der schrägen Originale und stillen Helden, denen sein Buch ein unpathetisches Denkmal setzt.