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"Blau ist eine warme Farbe"
Die Entdeckung der Leidenschaft

Der Film "Blau ist eine warme Farbe" ist einer der besten, faszinierendsten, schönsten französischen Filme seit Jahren. Regisseur Abdellatif Kechiche stellt mit seiner Geschichte über die Liebe zwischen zwei Mädchen die Ehre des Autorenkinos der Grande Nation wieder her.

Von Rüdiger Suchsland | 19.12.2013
    Die Darstellerinnen Adèle Exarchopoulos (l) und Léa Seydoux in einer Szene des Kinofilms "Blau ist eine warme Farbe" von Abdellatif Kechiche
    Die Darstellerinnen Adèle Exarchopoulos (l) und Léa Seydoux in einer Szene des Kinofilms "Blau ist eine warme Farbe" von Abdellatif Kechiche (picture alliance / dpa / Alamode Film)
    Blau ist die See, das Blau des Himmels, blau ist Blaubarts Bart, blau ist die Blume der Romantik, "Bleu, bleu, l'amour est bleu" sang einst Vicky Leandros... Man glaubt es nicht, bis man es selber gesehen hat - aber, "Blau ist eine warme Farbe" ("La Vie d'Adèle" lautet der Originaltitel) vom Franzosen Abdellatif Kechiche ist einer der besten, faszinierendsten, schönsten französischen Filme seit Jahren, ein Werk, das die Ehre der Grande Nation des Autorenkinos wiederherstellt, die unter einer ganzen Welle platter Kitschfilme und Junk-Komödien im Gefolge von "Ziemlich beste Freunde" zuletzt doch arg gelitten hatte.
    Einfaches Kostüm- und Production-Design
    Was auch immer Kechiche dazu inspiriert haben mag, Blau zur Leit- und Zentralfarbe seines neuen Films zu machen - es war eine grandiose Entscheidung. Es fällt dem Zuschauer nicht sofort auf, aber dann doch recht früh, in der zweiten oder dritten Szene, was dieser Regisseur hier überhaupt mit den Farben schafft: Eine blaue Welt, verfremdet und vertieft. Da ist nichts per Computer Entsättigtes, Eingefärbtes, sondern einfaches Kostüm- und Production-Design, in der dezenten Künstlichkeit eines Musicals von Vincente Minnelli. Etwa eine Gruppe Schüler, bei der alle etwas Blaues anhaben, und ansonsten Schwarz, Weiß, und Grau tragen, nichts sonst. Oder ein öffentlicher Platz, in dem alle Parkbänke blau gestrichen sind, alle Laternenmasten auch.
    Und dazu dann punktuelle Gegensätze: ein rotes Kleidungsstück. Ein grüner Busch, ein rosa Kirschblütenbaum, die rostbraune Lederjacke der Titelheldin.
    Alles beginnt in einer Schulklasse, man liest Marivaux: "Ihr Herz vermisste irgendetwas." In intelligenten Filmen ist natürlich nichts Zufall - so begreifen wir bald, dass hier auch und eigentlich von Adèle die Rede ist. In Frankreich und französischen Filmen geht Hochkultur immer in aller Leichtigkeit mit dem konkreten Leben einher. Und als Adèle über einen großen Platz geht und dann zum ersten Mal ein Mädchen mit blauen Haaren sieht, die von Lea Sedoux gespielt wird, da ahnen wir schon...
    "Comment tu t'appelles?" - "Adèle" - "Adèle... C'est beau Adèle. Attends. Cà veut dire un truc en arabe. Je crois cà veut dire... soleil? espoir? amour?" "Non: justice." - "Je m'appelle Emma." ("Wie heißt Du?" - "Adèle´" - "Adèle bedeutet doch irgendwas auf Arabisch: Sonne? Hoffnung? Liebe?" - "Nein: Es heißt Gerechtigkeit." - "Ich heiße Emma.")
    Sedoux' Auftritt in diesem Film ist eine Offenbarung. Im Zentrum steht aber die anfangs 16-jährige Adèle (gespielt von Adèle Exarchopoulos), die aus einfachen Verhältnissen kommt und sich bald unsterblich in Sedoux' Emma verliebt - ein aufgeklärtes "Mädchen aus gutem Haus", das Malerei studiert. Man inspiriert sich gegenseitig: Während Adèle durch Emma die Welt der Kunst und der Philosophie kennenlernt, ist Adèle Emmas Muse und gibt ihr neue Energie.
    Ein brillanter Frauenregisseur
    Nach Julie Marohs Graphic Novel "Le bleu est une couleur chaude" erzählt Kechiche von Frauenliebe und vermeidet konsequent alle dazugehörigen Klischees. Man möchte nicht wissen, wie deutsche Filme hier brav und "politisch korrekt" alle Facetten lesbischer Liebe abarbeiten würden. Der Regisseur hat einen so neugierigen und unbefangenen Blick und überdies ist sexuelle Orientierung hier nur Teil der Geschichte. Kechiche gelingen großartige Liebesszenen, die alles zeigen, aber nichts ausstellen. So etwas hat man lange nicht im Kino gesehen. Sie sind das Herz des Films. Einmal mehr beweist Kechiche, was seine Fans natürlich schon wussten: dass er ein brillanter Frauenregisseur ist.
    Kechiche steht auch zur eigenen Bürgerlichkeit, er predigt nicht den reaktionären Mythos "einfacher" "direkter" "humaner" Verständigung. Er zeigt in seiner Geschichte zugleich, dass Liebe und Verführungsmacht nicht genug sind, um ein Leben zu führen. Emma ist ein Mädchen der liberalen Oberklasse, das gewohnt ist, zu bekommen, was es will. Sie nennt Adèle "meine Muse", fügt vor Freunden hinzu: "Sie hat auch gekocht" (was im Klartext heißt: "Ich bin die Künstlerin, und ich koche hier nicht".) Der bekannte Fall des Kontakts einer Oberklasse mit der Unterklasse, um deren Lebensenergie zur eigenen Vitalisierung zu nutzen.
    "Du beträufelst die Auster mit der Zitrone, ok? Und normalerweise, wenn eine Auster wirklich gut und frisch ist, dann bewegt sie sich. Das heißt, dass sie gut ist. Siehst Du?" - "Die bewegt sich." - "Sie ist lebendig." - "Ja eben darum."
    Kechiche ist auch ein Meister der sozialen Interaktionen. In diesem Film wird, wie oft im französischen Kino, viel gegessen, viel geredet, Farb-Choreografie und Kamera sind exzellent, sodass dieser Film ein reines Vergnügen ist und unbedingt empfehlenswert - sehr zu Recht bekam er in Cannes die Goldene Palme.