Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Blick für gesellschaftliche Realitäten

Als der Schriftsteller Jörg Fauser 1987 bei einem Autounfall ums Leben kam, hatte er gerade an einem Roman mit dem Titel "Die Tournee" gearbeitet. Nichts Geringeres als ein bundesrepublikanisches Gesellschaftspanorama der 80er Jahre hatte er geplant. Nun ist in dem kleinen, um das Fausersche Werk sehr bemühten Alexander Verlag dieser Roman als Fragment aus dem Nachlass erschienen.

Von Ralph Gerstenberg | 17.04.2008
    Jörg Fauser und den Schweizer Schriftsteller Friedrich Glauser verbindet mehr als nur der Gleichklang ihrer Nachnamen. Beide waren Autoren, die auf eine beachtliche Drogenkarriere zurückblicken konnten. Beide haben einschlägige Erfahrungen in den Randzonen der Gesellschaft gesammelt, die in ihre Bücher eingeflossen sind. Beide starben jung unter nicht geklärten Umständen, Glauser mit 42 am Vorabend seiner geplanten Hochzeit, Fauser einen Tag nach seinem 43. Geburtstag. Beide feierten ihre größten literarischen Erfolge im Genre des Kriminalromans, wofür Jörg Fauser posthum mit einem Preis geehrt wurde, den die Vereinigung deutschsprachiger Krimiautoren nach Friedrich Glauser benannt hat. Und beide träumten am nicht vorhersehbaren Ende ihres kurzen Lebens davon, einen großen Gesellschaftsroman nach dem Vorbild von John Dos Passos' "Manhattan Transfer" zu schreiben. Bei Friedrich Glauser ist es ein Traum geblieben. Jörg Fauser konnte immerhin damit beginnen, ihn zu verwirklichen. "Die Tournee" heißt das unvollendete Werk, das Fauser seit November 1986 intensiv vorangetrieben hat. Gedanklich beschäftigte er sich schon seit längerem mit dem Stoff, was ein Fernsehauftritt in der "Sendung Autor-Scooter" mit Hellmuth Karasek aus dem Jahr 1984 belegt.

    "In diesem Buch tritt eine meiner Lieblingsfiguren auf. Und das ist kein Penner, es ist kein Junkie, und es ist kein Kulturkritiker, und es ist keine BB-Blondine, sondern es ist ein 53-jähriger Ex-Geheimdienstmann, den ich schon in drei Erzählungen drin habe, der sich auch in so einer Randzone zwischen den Diensten und Abteilungen und den kleinen illegalen Geschäften bewegt. Und der wird auch da auch wieder auftauchen, denn, ich meine, man hat ja seinen kleinen Kosmos, den man sich erschreiben will. Und man schleppt natürlich die eine oder andere Figur mit und pflanzt sie dann in neue Sachen rein. Das ist nach wie vor meine Welt."

    Die Welt, in der sich Harry Lipschitz, ehemaliger Agent, Sozialdemokrat, am Anfang von "Die Tournee" bewegt, war Fausers Welt in Berlin: Neben dem "Diener" am Savignyplatz und den Kleingartenanlagen an der Peripherie übte vor allem die Gegend rund um die Potsdamer Straße mit ihren zwielichtigen Schuppen und Bumslokalen einen unwiderstehlichen Reiz auf ihn aus. Die Potse! Mit sparsamen, aber präzisen Strichen zeichnet Fauser ein Porträt dieser sterbenden Rotlichtmeile.

    "'Sieht doch wieder ganz passabel aus, die Potse', meinte der Taxifahrer, der zwar in Harrys Alter war, aber doch aus einer anderen Zeit stammte. Passabel, in der Tat; im Abschnitt vor der Bülowstraße präsentierte sich die Straße der Puffs und Kaschemmen, der Zockerbars und Nobelruinen jetzt als architektonischer Gelsenkirchener Neo-Barock, und zwischen Polsterzentralen und Supermarkt-Filialen klebten noch letzte Relikte aus der alten Zeit - Spelunken, Kebab-Läden, Spielcasinos - wie Schimmelflecken."

    Harry Lipschitz hat sich in Schale geschmissen und ist auf dem Weg zum SPD-Ortsverein Schöneberg, um den Laden wieder auf Vordermann zu bringen. Allerdings ist ihm in dem Jahr, in dem er nicht dort gewesen war, entgangen, dass die Abteilungssitzungen nicht mehr freitags stattfinden, sondern dienstags, und dass man ihn in der Partei sowieso längst abgeschrieben hat. Und da man soviel Ernüchterung nicht nüchtern ertragen kann, wird aus der Diskussion mit den Genossen eine Kneipentour, die in der Notaufnahme endet. Später sollte Harry bei einem Kuraufenthalt den übrigen Personen des episodisch konstruierten Romans begegnen - als da wären: Der abgebrannte Münchner Galerist Guido Frank, der sich aus Geldnot auf krumme Geschäfte einlässt, der geheimnisumwitterte Mann, "der sich Charles Kuhn nennt" und ständig die Rollen wechselt, die ehrgeizige Journalistin Vicky Borchers-Bohne und - last, but not least - die Schauspielerin Natascha Liebling, deren beste Jahre schon ein Weilchen zurück liegen und die die miesen Fernsehrollen nur erträgt, indem sie ihren Apfelsaft mit Whisky verdünnt.

    "Dass sie in den letzten Jahren kaum noch gedreht oder auf der Bühne gestanden hatte, lag gewiss nicht daran, dass sie keine Angebote gehabt hatte - glaubte Natascha, in den Stunden, wenn es galt, sich festzuhalten. Aber es war nun mal so, auf dem deutschen Theater wurde die deutsche Kartoffel gepflegt, und der deutsche Film war mal wieder so gut wie tot - und die paar Rollen, die eine Frau wie die Liebling spielen konnte, die immerhin mit 23 in Italien entdeckt worden war, eine Frau in den besten Jahren, eine leidenschaftliche Geliebte, eine wilde Revolutionärin, eine besessene Gottessucherin oder die kühle Komplizin eines Top-Gangsters: man brauchte sich doch nur die jungen Regisseure anzusehen, dann wusste man, man lebte leider zur falschen Zeit im falschen Land."

    Die verbliebene Leuchtkraft des verblassenden Stars soll jedoch genügen, um einer Tourneetheatergruppe, die mit einem Boulevardstück durch die westdeutsche Provinz tingelt, die nötigen Einnahmen zu sichern. Die Tournee beginnt - und damit ist der zu Papier gebrachte erste Teil des auf drei Teile konzipierten Buches leider auch schon zu Ende. Jörg Fauser ist in den frühen Morgenstunden des 17. Juli 1987 mit 2,64 Promille im Blut leider nicht wie seine Romanfigur Harry Lipschitz in die Notaufnahme eingeliefert, sondern auf der A 94 bei München von einem Lkw überfahren worden. Seinen großen Gesellschaftsroman konnte er nicht vollenden. Doch die erhaltenen Passagen zeigen ihn einmal mehr als Ausnahmeerscheinung im bundesrepublikanischen Literaturbetrieb. Niemand konnte so detail- und milieugenau, lakonisch und dennoch teilnahmsvoll über Menschen schreiben, die noch einmal eine Chance wittern, von denen man als Leser jedoch genau weiß, dass sie bereits Glück haben, wenn sie am nächsten Morgen in der Notaufnahme aufwachen.

    Die Herausgeber Jan Bürger und Rainer Weiss haben die Aufzeichnungen zu diesem Roman als Anhang veröffentlicht. So erhält man als Leser einen spannenden Einblick in Fausers Schreibwerkstatt. Man kann verfolgen, wie lange er den Stoff hin und her gewendet hat, bevor er mit der Niederschrift begann, wie sich die Figurenkonstellationen im Verlauf dieses Prozesses verändert haben und wie akribisch er die Milieus recherchiert hat, in denen sich seine Figuren bewegen. Eine Reportage über die Premiere einer Tourneetheatergruppe in Bad Orb, die sich ebenfalls im Anhang befindet, zeigt Fauser nicht nur als Meister der literarischen Reportage, sondern auch, wie er sein journalistisches Handwerkszeug nutzte, um sich ein literarisches Sujet zu erschließen. Am Ende dieser interessanten und höchst verdienstvollen Publikation weisen die Herausgeber auf einen weiteren Punkt hin, der Jörg Fauser mit dem Schweizer Schriftsteller Friedrich Glauser verbindet: Er errichtete sein literarisches Werk auf dem Fundament seiner eigenen Biografie. Nichts von dem, was er schrieb, war nicht durch Erfahrungen gesättigt. Das macht Fauser auch für jüngere Autoren und eine nachwachsende Leserschaft zu einem glaubwürdigen Schriftsteller mit einem ungetrübten Blick für gesellschaftliche Realitäten.


    Jörg Fauser: Die Tournee - Roman aus dem Nachlass
    Herausgegeben von Jan Bürger und Rainer Weiss
    Alexander Verlag, 270 Seiten, 19,90 Euro