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Blick in den Abgrund

Der Roman "Die Männer im allgemeinen gefallen mir sehr" handelt von den diffusen Abgründen seiner Protagonistin Lili, deren Leben völlig aus dem Ruder läuft. Die erst 30jährige Autorin Véronique Ovaldé beschreibt das wahnhafte Aufgewühltsein der Protagonistin in einer soghaften, bildstarken Prosa, die durch das suggestive Wechselspiel von Erinnerung, Gegenwart und Einbildung bannt.

Ein Beitrag von Christoph Vormweg | 22.04.2005
    Fangen wir mit dem Umschlagfoto an, das der Kunstmann Verlag vom französischen Original übernommen hat. Wie sehen zwei nackte Mädchenbeine, die auf einem Holzbalken balancieren. Auf Kniehöhe der Rockansatz in rötlichen Tönen, dahinter, unscharf, ein sonnenüberfluteter Rasen. Automatisch stellt sich unsere Erwartung auf eine leichte, beschwingte Lektüre ein - zumal bei dem auf den ersten Blick erotisch anmutenden Titel: "Die Männer im allgemeinen gefallen mir sehr." Doch dann fragt man sich: Warum sind die Mädchenbeine minderjährig? Warum gefallen die Männer der Heldin nur "im allgemeinen"? Unweigerlich denkt man, dass "im besonderen" etwas schief gehen könnte, dass das balancierende Mädchen vielleicht das Gleichgewicht verliert und stürzt. Und die sanften Irritationen, die Titel und Umschlagfoto erzeugen, setzen sich im Text fort. Zwar scheint die Ich-Erzählerin, die 23-jährige Lili, mit ihrem Freund Samuel eine zufrieden stellende Zweisamkeit zu leben, die sich nicht zuletzt in Samuels Kinderwunsch äußert. Doch warum traut sich Lili nicht, ihm zu erzählen, dass sie nachts den Auszug der Tiere aus dem nahe gelegenen Zoo beobachtet hat. Warum fürchtet sie, Samuel könnte denken, es ginge wieder los? Und was droht hier eigentlich wieder losgehen? Véronique Ovaldé:

    "Sie glaubt, von einer ganzen Menge Leute bewohnt zu sein: von ihrem Vater, ihrer Mutter, der alten Dame, ihrem kleinen Bruder. Also fragt sich Lili, wenn sie ihnen begegnet: Sind sie es wirklich oder existieren sie nur in meiner Vorstellung? Aber ob Hirngespinst oder nicht: letztlich sind sie ja da. Das ist so eine Art Solipsismus: wenn man glaubt, die Welt um einen herum sei nur eine Illusion; "vielleicht ist ja alles nur ein Traum, was mir passiert?" Das kann das Leben leichter machen, kann Fluchtwege öffnen. Wenn die Realität zu schwierig, zu hart wird, dann klinkt sie sich aus der Wirklichkeit aus."

    Als Lili im Zoo Yoïm, ihren ersten Geliebten, einen schwergewichtigen Tablettendealer, gesehen zu haben meint, brechen die Dämme. Zu den Zweifeln an der eigenen Wahrnehmung – ist er es wirklich oder doch nur wieder eines meiner Phantasiegespenster? - kommt der Einbruch der Erinnerungen: die Stationen ihrer sexuellen Hörigkeit; der von Yoïm eingefädelte Wohnungseinbruch, den Lili mit mehreren Jahren Jugendhaft bezahlen musste; dann die Begegnung mit Samuel, der sich als Sozialarbeiter für ihre vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis stark machte. In jedem Fall: Die Vergangenheit greift mit aller Macht nach Lili. Denn Yoïm hat sie damals nicht nur mit Tabletten abgerichtet, zur Prostitution gezwungen und verraten. Er hat sie auch von ihrem herrischen Vater befreit.

    "Zu Hause läuft er immer in einer Uniform der Wehrmacht herum. Das passiert alles hinter verschlossenen Türen, nur im Familienkreis, in dem kleinen Appartement, wo sie eingesperrt sind: ihr kleiner Bruder in Tiroler Tracht, Lili und ihre Mutter, die sie wegen ihrer geblümten Kleider "Prärie" nennen und die ihren Kindern viel Liebe und Kraft gibt, die sich um sie kümmert und sie bekocht. Der Vater wirkt da, trotz Entsetzen erregenden Gehabes, in seinen Soldatenstiefeln und seiner Wehrmachtsuniform ziemlich lächerlich. Er ist ein klassischer Haustyrann, von denen es ja viele gibt."

    Nach dem Tod der zermürbten Mutter jedoch läuft alles aus dem Ruder. Es sind Ferien, und der Vater schließt während seiner Geschäftsreisen im Dienste einer Neonazi-Partei die vierzehnjährige Lili und ihren zehn Jahre jüngeren Bruder zu Hause ein. Erst Lilis fehlschlagender Selbstmordversuch – der Galgen reißt den Kronleuchter aus der Decke – öffnet den Weg zu den Nachbarn und zu Yoïm und damit in eine verheißungsvolle Freiheit, die aber nur zu neuen Abhängigkeiten führt.

    Der Roman "Die Männer im allgemeinen gefallen mir sehr" erzählt die Geschichte eines Rückfalls. Denn Lilis Lust auf Yoïm und seine Pillen ist stärker als die Dankbarkeit gegenüber Samuel. Ihr wahnhaftes Aufgewühltsein wird von Véronique Ovaldé in einer soghaften, bildstarken Prosa nachvollziehbar gemacht, einer Prosa, die durch das feingeschachtelte, suggestive Wechselspiel von Erinnerung, Gegenwart und Einbildung bannt. Dabei besticht sie wiederholt durch lange, genau austarierte Sätze.

    "Man führt sie im Mund: die langen Sätze, sie haben einen Klang. Und deshalb lese ich sie mir, wenn ich früh morgens schreibe, laut vor. Es gibt also eine musikalische Seite, was den Atem und den Rhythmus betrifft. Ich liebe es, wie die Sätze fortschreiten und wieder inne halten. Es passiert etwas in diesen langen Sätzen. Sie haben ein Innenleben, sie wogen vor sich hin, es gibt Kommata, Satzzeichen - oder sie fehlen. Es gibt Auslassungen, Wiederholungen, Einschübe – das alles liebe ich an langen Sätzen. Für mich hat das mit dem Denken zu tun, mit dem langsamen Fortschreiten eines Gedankens. "

    Véronique Ovaldé ist erst dreißig. Aber sie hat sich schon einen eigenen Ton erschrieben, einen beunruhigenden Ton, der in den diffusen Abgründen ihrer Protagonistin forscht. Lilis Leben zwischen Zoo und Einkaufszentrum, zwischen Fremdgehen mit Yoïm und abendlicher Scheinidylle mit Samuel jedenfalls kann die Lösung nicht sein. Lili muss sich den Realitäten stellen. Mehr noch: sie muss und will sie in ihrem Sinne beeinflussen.