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Blick in die politischen Blogs

Deutschland gilt als Entwicklungsland, wenn es um politische Blogkultur geht. Doch die Zahl einschlägiger Blogger nimmt zu, Debattenbeiträge werden durch soziale Netzwerke millionenfach verbreitet. KURSIV bietet nun monatlich einen Kompass durch den politischen Internetdschungel. Das Thema dieser Tage, wen wundert’s: Die Nominierung Joachim Gaucks.

Von Norbert Seitz | 27.02.2012
    Ein "Kandidat der Springer-Presse" sei er, heißt es im altideologischen Jargon des Internetportals "NachDenkSeiten", deren Herausgeber Albrecht Müller dem linken Flügel der SPD nahesteht. Auf die Frage, ob sich die Partei Sigmar Gabriels mit der Kandidatur "verzockt" habe, antwortet Müller im Gespräch:

    "Ganz eindeutig. Als Oppositionspartei muss man etwas zu kritisieren haben, wenn man an die Macht will, und ein Präsidentschaftskandidat muss das verkörpern. Gauck ist aber doch das Oberhaupt der Beschöniger. Seine Hauptbotschaft nach der Nominierung lautet: Alles ist gut im Land. Dieser Mann repräsentiert und mobilisiert einfach nicht die Menschen, die die SPD braucht, um Wahlen zu gewinnen – und dazu zählen eben auch Arbeitslose, Obdachlose, Leiharbeiter, Minijobber, Alleinerziehende, Rentner, Leute mit Schulden. Für diese Systemverlierer interessiert sich Gauck doch gar nicht, weil er glaubt, sie sind selbst schuld an ihrer Lage."

    Vor allem für jene, die in der alten DDR "nicht alles schlecht" fanden, ist Gauck ein rotes Tuch. So auch für die Buchautorin Daniela Dahn, die in ihm nur einen "Präsidenten für die Eliten" erkennen kann. Schlimmer noch: Im Online-Portal von "Cicero" wähnt sie ihn sogar auf der schiefen Bahn hin zur US-amerikanischen Tea-Party-Bewegung, die Sozialpolitik für "sozialistisches Teufelszeug" halte.
    "Wer sich etwas intensiver mit Joachim Gauck beschäftigt hat muss befürchten, dass er eben nicht ein Bürgerpräsident wird, sondern ein Präsident der Eliten. Diese wiederum haben für ihn auch nicht vor dem Mittel der pränatalen Heiligsprechung zurückgeschreckt. (…) Für die Springer-Presse müssen die Ansichten von Pastor Gauck die ideale Grundlage sein, um die Diskurshoheit im Lande nach rechts zu rücken."

    Dennoch kommt auch die DDR-Verteidigerin Dahn nicht umhin, dem unerwünschten Präsidenten in spe – wenn auch nicht uneingeschränkt – Vorzüge zu attestieren:

    "Zweifellos hat der geübte Prediger Gauck eine erfrischend undiplomatische, emotionale Sprache, die nicht drum herum redet und ankommt. Die Fähigkeit zu nicht enden wollender freier Rede und Assoziation ist herausragend. Wenn man allerdings nur ein Ohr auf Bewunderung programmiert und im anderen eine Art Phrasen-Detektor einbaut, dann wird das Fiepen in diesem Ohr kaum zur Ruhe kommen."

    Deftige Befunde und unverhohlene Ressentiments, wohin man auch schaut. Unter dem Titel "Der Gauck, den man rief. Der Demokratie Schaden" toben sich auch im Blog "Le Bohémien" ein paar Gegner des designierten Bundespräsidenten aus. Darunter auch Roberto De Lapuente, ein Blogger aus Ingolstadt, der sich als Analytiker am emphatischen Freiheitsbegriff des Kandidaten versucht:

    "Demonstranten sind kindisch, meinte er mal – wer gegen die kapitalistische Wirklichkeit steht, der ist infantil. Freiheit heißt auch, sich die Freiheit zu nehmen, die Knechtschaft des Kapitals frisch und frei zu akzeptieren. Die Freiheit, die dieser Pastor predigt, beinhaltet die Verantwortung – sie ist nur der kapitalistischen Ökonomie verantwortlich. Nicht ethische Standards, nicht unveräußerliche Rechte, nicht moralische Imperative sind es, die die Konturen seines Freiheitsbegriffes nachzeichnen, sondern wirtschaftliche Gespinste. Er verklärt die unterwürfige Haltung vor der staatlichen und wirtschaftlichen Obrigkeit als Freiheit. In diesem Sinne ist er tief lutherisch geprägt."

    Derweil lokalisiert Vera Lengsfeld das linke Widerstandsnest gegen Gauck. Im liberal-konservativen, von Hendryk M. Broder mit herausgegebenen Blog "Die Achse des Guten" untersucht die frühere Bürgerrechtlerin die "künstliche Empörung" der Gegner im Netz:

    "Er wird vor allem der Präsident der Menschen sein, die mit ihrer Produktivität und ihrem Engagement dieses Land am Leben erhalten. Das wird denen am wenigsten gefallen, die sich angewöhnt haben, die Gesellschaft als einen Selbstbedienungsladen zu betrachten, der Bedürfnisse oder Ansprüche ohne Gegenleistung erfüllen soll."

    Anderswo ist eher die Frage des taktischen Umgangs mit der Entscheidung von Interesse. Ob Gaucks Kandidatur eine "Schmach" oder ein "Triumph" Angela Merkels sei, lässt die Publizistin Antje Schrupp in ihrem Portal "Aus Liebe zur Freiheit", diskutieren. Sie jedenfalls findet solche Gewinner- und Verlierer-Logik der politischen Analysen äußerst nervig. Auch Blogger Michael Seemann stört sich an der "Skala pseudo-strategischer Ausgebufftheit", auf der hierzulande politische Vorgänge öffentlich diskutiert würden.

    "Wirklich `tolle` Kategorien: Triumph oder Schmach. Das zeigt schon das ganze traurige Ausmaß der Desolatheit unserer offiziellen politischen Unkultur. Offensichtlich ist es dieser verquarzten Logik gar nicht mehr möglich, Dinge, die geschehen, in ihrer ganz normalen Normalität zu sehen (…) Warum Angela Merkel ihren Job eigentlich noch nicht hingeschmissen hat, frage ich mich übrigens jedes Mal, wenn ich etwas über sie lese."