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Blick in ein arabisches Pantheon

Die Namen der Helden klingen etwas ungewohnt, viele Ereignisse sind im Westen völlig unbekannt: Genau daraus resultieren viele Missverständisse über die arabische Welt. Ein spannendes Buch gibt interessante Einblicke.

Von Martin Ebel | 17.04.2012
    2011 war das Jahr des arabischen Aufbruchs. Er kam für uns Europäer überraschend und machte einmal mehr deutlich, wie wenig wir über die 200 Millionen Menschen wissen, die zwischen Marokko und dem Irak leben. Nicht zum ersten Mal: Als die USA den Irak besetzten, zeigte sich eine eklatante Unkenntnis des Landes, seiner Geschichte, seiner Kultur, seiner religiösen und ethnischen Gegensätze. Dabei hätten die Amerikaner von den Briten lernen können und diese von sich selbst. Denn die Engländer hatten 1918 schon einmal den Irak besetzt und alsbald einen Volksaufstand ausgelöst, den sie nur mit einem 100.000-Mann-Heer niederschlagen konnten. Irakische Schulkinder sind über Generationen mit heroischen Episoden aus diesem Aufstand aufgewachsen, bei uns ist er unbekannt.

    Nur ein Beispiel dafür, wie wichtig die Kenntnis der jüngeren Geschichte einer Region ist, die nicht erst seit den Attentaten vom 11. September die Weltpolitik mitbestimmt. Die gegenwärtig beste Einführung in diese Geschichte stammt von Eugene Rogan, einem amerikanischen Historiker, der das renommierte Middle East Centre an der Universität Oxford leitet. Über 700 Seiten sind nötig, um die arabische Neuzeit abzuhandeln, die 1517 mit der Niederlage des letzten Mamelukensultans gegen die türkischen Osmanen beginnt.

    Vier Jahrhunderte dauert die Osmanenherrschaft über die Araber, die sich noch gar nicht als solche, schon gar nicht als "arabische Nation" empfanden. Es folgt die Epoche des Kolonialismus, etwa bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

    In einer dritten Phase entstehen die arabischen Nationalstaaten, die wir heute kennen und die sich möglicherweise in einer vierten Phase zu Demokratien entwickeln: Dann würden die Araber erstmals nicht mehr nur frei von Fremdherrschaft sein, sondern auch von der Unterdrückung im Innern.

    Eugene Rogans Buch ist im englischen Original 2009 erschienen, als vom arabischen Frühling noch nichts zu ahnen war. Ist es deshalb überholt? Keineswegs. Denn die Darstellung des Geschehenen wird ja nicht entwertet durch eine neue, radikale Wendung. Außerdem hat Rogan durchaus die Perspektive zu einem grundlegenden Wandel skizziert und die ersten Anzeichen zu erkennen geglaubt. Für die deutsche Ausgabe hat er in einer neuen Einleitung das revolutionäre Jahr 2011 konzis und durchdringend zusammengefasst, die syrische Tragödie mit eingeschlossen.

    Die Lektüre des umfangreichen Buches macht klüger und kenntnisreicher - selten wohl bei einem Sachbuch ist der Wissens- und Verständniszuwachs so immens wie hier. Das liegt natürlich auch an dem ungeheuren Nachholbedarf, der bei diesem Stoff besteht. Rogan gelingt es, die schier unüberschaubare Zahl an Ereignissen, Schauplätzen und handelnden Personen der arabischen Welt so zu präsentieren, dass das Interesse des Lesers niemals erlahmt: Und das ist wahrhaftig eine Kunst.

    Die Lektüre nährt aber auch des Lesers Skepsis und bestärkt ihn in einem gesunden Realismus, was die Demokratiebewegung betrifft. Denn die Geschichte der arabischen Völker erweist sich als ein stetes Auf und Ab von Fortschritten und Rückfällen, von Hoffnungen und Enttäuschungen, von Rache und Vergeltung, von Aufständen, die extrem brutal niedergeschlagen werden. Es ist eine gewaltreiche Geschichte mit vielen Konflikten, die nur selten auf dem Verhandlungswege gelöst werden: zwischen den einzelnen Völkern, zwischen Religionsgruppen, zwischen rivalisierenden Herrscherfamilien, zwischen oben und unten. Nach der Lektüre hat man den Eindruck, die arabische Welt habe sich in den letzten Jahrhunderten nicht weniger zerfleischt als Europa - nun, vielleicht doch ein bisschen weniger.

    Eugene Rogans Darstellung hat viele Qualitäten. Zu ihnen gehört an vorderster Stelle, dass er die Geschichte der Araber aus ihrer Sicht erzählt und nicht von einem eurozentrischen Standpunkt aus. So wird dem Leser vieles verständlich, von dem er vorher nicht einmal etwas gewusst hat. Etwa die grenzenlose Enttäuschung im Nahen Osten, als der 1918 nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs nicht die Selbstbestimmung erhielt, von der in den berühmten 14 Punkten des amerikanischen Präsidenten Wilson die Rede war. Vielmehr hatten Engländer und Franzosen das Fell des Bären, noch bevor der ganz erlegt war, längst unter sich verteilt. Die Engländer hatten Palästina gleich drei Parteien versprochen, behielten es dann aber erst einmal selbst; die Franzosen marschierten in Syrien ein - in ihrem Heer kämpften algerische und marokkanische Soldaten, also wie so oft: Araber gegen Araber.

    Sie hätten es sich denken können angesichts der Art und Weise, wie die europäischen Kolonialmächte einige Jahrzehnte zuvor Nordafrika in ihre Gewalt gebracht hatten. In einem regelrechten Geschacher bekamen die Franzosen Marokko als Ausgleich für die britische Kontrolle Ägyptens, die Italiener wiederum Libyen als Entschädigung für Französisch-Tunesien. Die Einwohner wurden nicht gefragt.

    Sie hätten sich übrigens auch bei ihren eigenen Herrschern beschweren können, wenn das überhaupt im Bereich des Denkbaren gewesen wäre. Das Osmanische Reich und seine damals schon recht autonomen Provinzen hatten sich nämlich bei den Europäern horrend verschuldet. Sie wollten den Rückstand zur europäischen Zivilisation aufholen - und natürlich die Annehmlichkeiten des Fortschritts auch in ihren Ländern genießen. Dazu gehörten Eisenbahnlinien, moderne Straßen und Brücken, Gaslaternen in den Städten, Paläste und, wie es sich Kairo leistete, ein Nationaltheater und ein Opernhaus.

    Leisten konnte man sich das eben nicht, aber Europas Banken gewährten großzügig Kredit. Nur als die Zins- und Rückzahlungen stockten, war es mit der Großzügigkeit vorbei. Ägypten und Tunesien wurden unter internationale Finanzkontrolle gestellt, externe Fachleute traten in die Regierung ein, große Teile der Einnahmen wurden gepfändet. Es kam zum Staatsbankrott und zur Machtübernahme Englands und Frankreichs. Wer denkt bei dieser Entwicklung nicht an heute, an Griechenland?

    Eugene Rogans Geschichte der arabischen Völker ist voller farbiger Szenen, mit denen er den Leser bei der Stange hält. Sie ist auch voller plastischer Gestalten, die hinter den Heroen Europas nicht zurückstehen und deren Namen wir uns merken sollten, auch wenn es etwas schwerer fällt, weil sie fremder klingen als Napoleon oder Prinz Eugen. Etwa Muhammad Ali, nein nicht der Boxweltmeister, sondern ein ägyptischer Warlord albanischer Herkunft, der im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gegen den Sultan ein Großreich erkämpfte und wieder verlor, aber seiner Familie die Herrschaft bis 1952 sicherte. Danach kam ein gewisser Nasser an die Macht. Oder der Schriftsteller Rifaa al-Tahtawi, der sich 1826 bis 1831 in Frankreich aufhielt und ein Buch über die dortigen Verhältnisse schrieb - keine fingierten "Persischen Briefe" wie die Montesquieus, sondern die authentische Sicht eines Arabers.

    Oder der Tunesier Khayr ad-Din, eigentlich ein Tscherkesse, als Kind geraubt und bis zum General aufgestiegen. Die sogenannte "Knabenlese" war üblich im ganzen Osmanischen Reich; die Militär- und Verwaltungselite bestand großenteils aus solchem menschlichen Raubgut. Oder Al-Quadir, ein algerischer Freiheitskämpfer, der sich 15 Jahre gegen die französischen Besatzer auflehnte, gegen deren genozidähnliches Vorgehen aber letztlich keine Chance hatte. Sie und viele andere gehören in ein arabisches Pantheon, das zwar keineswegs von Heiligen bevölkert ist, aber Kenntnis und Beachtung verdient. Auch für das Kuriositätenkabinett hat Eugene Rogan einiges zu bieten, etwa die merkwürdige Vereinigung Syriens mit Ägypten, die genau drei Jahre dauerte.

    An eine mögliche Vereinigung aller arabischen Völker in absehbarer Zukunft wird niemand glauben, der dieses Buch gelesen und die Diversität des Raumes begriffen hat. Es wäre den Arabern auch eher zu gönnen, dass sie möglichst bald in Frieden, Freiheit und Würde leben können. Denn das hat es in ihrer Geschichte bisher noch nicht gegeben.

    Buchinfos:
    Eugene Rogan: Die Araber. Eine Geschichte von Unterdrückung und Aufbruch. Aus dem Englischen von Hans Freundl, Norbert Juraschitz und Oliver Grasmück. Propyläen, Berlin 2012. 736 Seite, Preis: 26,99 Euro