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Blick in eine Parallelgesellschaft

Ursula Rogg, Kunstlehrerin und Fotografin, beschreibt plastischer als es die Statistik kann, wie sich der Alltag an einer Schule in einem Problembezirk Berlins anfühlt. Auf ihrem Gymnasium hatten 70 Prozent der Schüler keine entsprechende Empfehlung, nahezu hundert Prozent aber einen Migrationshintergrund. Das Buch liefert keine Schönfärberei, aber einen empathischen Blick auf andere Verhältnisse.

Von Karl-Heinz Heinemann | 18.11.2008
    Vom Albert-Schweitzer-Gymnasium in Neukölln sind es vielleicht 500 Meter bis zur Rütli-Schule. Da weiß auch der Nicht-Berliner, wo wir uns befinden - mitten in einem Slum, wie selbst der offizielle Berliner Sozialatlas schreibt. Und Ursula Rogg, die Kunstlehrerin und Fotografin beschreibt plastischer als es die Statistik kann, wie sie sich fühlt, wenn sie am Herrmannplatz aus der U-Bahn kommt: Man muss ständig Entgegenkommenden ausweichen, sie taxieren, sonst wird man angerempelt. Aber ein zu langer Blick reicht schon für eine harte Anmache.

    Hier hat Ursula Rogg vier Jahre gearbeitet, als Lehrerin für Kunst und Darstellendes Spiel. Was dem in dem Gymnasium ergrauten Kollegium offenbar selbstverständlich, zumindest aber gleichgültig ist, nimmt die als Enddreißigerin noch junge Kollegin mit einer Mischung aus Faszination und ehrlichem Ekel auf, wie sie schreibt: Es dauert gut 20 Minuten, bis sie zum ersten Mal zu den Zehntklässlern zumindest akustisch durchdringt, die sich an ihren Gruppentischen herzen und begrüßen. 70 Prozent der Schüler haben keine Empfehlung fürs Gymnasium, nahezu hundert Prozent haben einen Migrationshintergrund. Die Zuwanderin aus geordneten bayrischen Verhältnissen ist zunächst geschockt:

    "Ich war am Anfang empört, ich dachte, das ist doch ein Gymnasium! Dieses Niveau hier hat nichts mit Gymnasium zu tun! Noch in der Oberstufe ist das ein Schriftdeutsch, das ist katastrophal, muss man wirklich sagen! ... Auf der anderen Seite hat dann auch bei mir so ein Umdenken eingesetzt, weil dieser Schulabschluss ist natürlich für die Kinder und Jugendlichen die einzige Chance jemals aus dem raus zu kommen, wo die Familien drin stecken, aus Neukölln, ich nehme das mal als Metapher, herauszukommen."

    Diese Kinder müssen ungleich mehr leisten, als Kinder aus deutschem Mittelschichtmilieu, um das Abitur zu erreichen, davor hat sie Hochachtung. Ihr Urteil über das Gymnasium, das den Kindern eigentlich den Anschluss an die bürgerliche Welt, die Integration ermöglichen soll, ist vernichtend:

    "Die Schüler waren offiziell hier, um Abitur zu machen, aber sie standen rum und hatten keinen Ort und keine Aufgabe, niemand scherte sich um sie. Und so wurde die Schule mehr und mehr zum Spiegel eines schlechten Zuhauses, in dem sich Überforderung mit mangelnder Fürsorge trifft.."
    Eine Jungens-Gang kommt scheinbar freundlich auf sie zu, der Anführer hält ihr fordernd und schon irgendwie bedrohlich die Hand zu Begrüßung entgegen. Soll sie die Hand ergreifen oder nicht?

    " Da gibt es immer wieder solche zeichenhaften Momente von: Pass auf! Nimm dich in acht! Das ist ja das, was daraus spricht, und das ist das, was aus meiner Sicht der Dinge, dass es einzelne Schüler gibt, die tatsächlich kriminelles Potenzial haben, das sind einzelne Figuren, darunter leiden viele Schüler genauso wie viele Lehrer, und man ist dem einfach nicht konsequent und geschlossen genug begegnet. "

    Ebenso eindringlich beschreibt sie zum Beispiel Lucia, das polnische Mädchen, das alles spiegelverkehrt schreibt, die für ihren Vater in Internetkontaktbörsen eine neue Partnerin sucht und die ihren jüngeren Bruder von den Ballerspielen am Computer wegholt - deshalb kommt sie oft zu spät. Sie kommt mit den besten Ideen in ihren Theaterworkshop, doch eines Tages ist sie weg, weil sie das alles nicht mehr schafft. Oder Dzifa, der ghanesische Junge mit dem Gerechtigkeitssinn und der großen Klappe, und seinem Vater, dem die Lehrer auch nicht sagen können, wie er seinen Sohn denn nun ohne Schläge erziehen soll.

    Ursula Rogg öffnet uns den Blick in eine Parallelgesellschaft, in einem Gymnasium wohlgemerkt, aus der Perspektive einer teilnehmenden Beobachterin. Und sie lässt auch das Umfeld nicht aus, in dem die Kinder und Jugendlichen agieren. Da liegt wochenlang eine tote Ratte auf dem Schulhof, platt und stinkend, die Milchtüten, der übliche Müll, niemand räumt das weg. Als sie anfängt an der Schule macht sie zusammen mit ihren Zehntklässlern ein großes Wandbild, für das Treppenhaus. Für die Enthüllung besorgt sie Getränke, alles soll schön und festlich werden - es kommen ein paar Schüler, drei Kollegen, nicht mal der Schulleiter lässt sich blicken. Der sitzt hinter einer gepolsterten Doppeltür, mit einem Schild "Vorsicht, Schwelle".

    Sie beobachtet also nicht nur die uns fremde Neuköllner Welt, sondern mindestens ebenso scharf die Verwahrlosung der bürgerlichen Institution Schule in diesem Umfeld.

    "Das Lehrerzimmer ist voll von Menschen, die Kontakt suchen und sehr allein sind, ein psychisch kaputtes Personal, in das nichts mehr rein geht, aus dem nichts mehr rauskommt."

    Sie deutet die kleinen, hysterischen Intrigen an, beschreibt die Typen, die unter dem Druck kaputt gegangen oder skurril geworden sind:

    "Es ist ein ganz harter, tougher Beruf, dem auch ich, die ich noch nicht so alt bin und eigentlich bei bester Gesundheit, dem ich mich nicht mehr gewachsen gesehen habe. Und deswegen glaube ich auch, man kann so eine Arbeit nur für eine gewisse Zeit machen, man darf nicht dramatisieren, aber ich will auch nicht verharmlosen. Es ist ein unglaublich unkultivierter Umgang, dem man dort ausgesetzt ist. Es wird gespuckt, es wird gebrüllt, es wird gerempelt, und davon sind Sie als Lehrer auch überhaupt nicht ausgenommen. Man wird beschimpft, es ist ein Geschrei von früh bis spät, ein wahnsinniges Geschrei."

    Aber mehr noch als unter dem Geschrei der Schüler leidet sie an der Wortlosigkeit und der fehlenden Aufmerksamkeit der Schulbehörde, die das Gebäude verkommen lässt, die die Schüler und Lehrer in ihrem Sumpf allein lässt.

    " Die Neuköllner Kollegen sehe ich schon sehr stark in die Pflicht genommen. Sie müssen dort Erzieher sein, zum Teil Elternersatz sein, sie müssen Konfliktmanager sein und sie sind aber auch Opfer. Sie sind auch Opfer dieser mangelnden Fürsorge, sie sind auch Opfer einer absolut veralteten Ausbildung, man ist ja als Lehrer im Referendariat komplett überwacht sozusagen und Dauer bespiegelt und dann hört es mit einem Schlag auf. Und dann guckt eigentlich niemand mehr, über Jahrzehnte geht das dann so. Und dann versucht man sich so in seiner Einsamkeit und mit seinen Schwierigkeiten der irgendwie Jahr für Jahr wieder zu motivieren und da haben sich schon einfach einige unterwegs aufgegeben."

    Nach vier Jahren, in denen sie viele schöne Projekte mit den Schülern erarbeitet, Museen und Moscheen besucht hat, ist auch sie psychisch und physisch fertig, nicht zuletzt zermürbt durch einen autoritären Schulleiter und kleinlich-hysterische Kollegen, sie lässt sich versetzen. An eine andere Schule im Wedding, sie bleibt also bei den Problemschülern, aber an einer besser funktionierenden Schule. Ist sie nun eine frustrierte Lehrerin?

    "Ich bin eine unzufriedene Lehrerin, unzufrieden mit den Bedingungen, unter denen ich arbeiten muss. Unzufrieden damit, dass es nicht verändert wird, obwohl vieles gar nicht so schwer zu ändern wäre."

    Ihr Buch ist alles andere als eine larmoyante Abrechnung mit den bösen, ungebildeten Schülern. Man merkt, dass sie ihnen mit viel Empathie begegnet, aber das reicht dann einfach irgendwann nicht mehr. Da beschönigt sie nichts.

    Roggs Welt ist wahrlich nicht nur faszinierender, sondern auch lehrreicher als die des Schloss-Internats in Salem, in der Bernhard Bueb, der Lehrer der Nation seine Weisheiten gewann. Im Unterschied zu ihm hat sie keine Rezepte parat, weiß sie nicht alles besser als die Eltern, sondern gibt Einblicke und wirft Fragen auf. Sie beobachtet genau, einfühlsam und kann es faszinierend beschreiben, auch das unterscheidet ihr Buch wohltuend von dem des drögen Oberlehrers vom Bodensee.

    Doch etwas ist ärgerlich und schlecht an diesem Buch: Der Untertitel "Frontbericht aus dem Klassenzimmer". Die Befürchtung, die er weckt, dass hier wieder eine Frontkämpferin ihren Frust über unbelehrbare und renitente Schüler ablässt, wird zum Glück nicht bestätigt.

    "Es geht in keinem Moment um eine Front, ich habe es auch nicht so empfunden. Das ist ein lauter Begriff, der durch die Zellophanfolie den Leser anlacht. Innerhalb der Klassen gibt es dieses Moment einer Front oder einer Kriegsführung nicht. "

    Keine Schönfärberei, aber ein empathischer Blick auf andere Schüler, auf Veränderungen im guten alten deutschen Gymnasium, die kein OECD-Bildungsbericht so plastisch zeigen kann. Und solange es Lehrerinnen gibt, die ihre Schüler so aufmerksam und empathisch begleiten wie Ursula Rogg gibt es noch Hoffnung für das deutsche Schulwesen.