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"Blick und Weg nach vorne"

"Ich hoffe, dass die beiden Kontrahenten erkennen, dass sie eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft dieses Landes haben," unterstreicht der SPD-Politiker Gert Weisskirchen angesichts des knappen Ergebnisses zwischen Oppositionsführer Viktor Janukowitsch und seine Konkurrentin Julia Timoschenko. Die Wähler in der Ukraine seien der Auseinandersetzung müde.

Gert Weisskirchen im Gespräch mit Jasper Barenberg | 08.02.2010
    Jasper Barenberg: Vom Ausgang der Stichwahl in der Ukraine war schon die Rede in dieser Stunde in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Oppositionsführer Viktor Janukowitsch lässt sich schon als Sieger feiern nach der Stichwahl und fordert seine Konkurrentin Julia Timoschenko zum Rücktritt auf. Die Regierungschefin antwortet mit dem Vorwurf der Wahlfälschung. Alles in allem aber deuten die ersten Ergebnisse auf einen Sieg für Janukowitsch, dem damit offenbar die Revanche gelingt, fünf Jahre nach der sogenannten orangenen Revolution. Damals war seine Wahl nach Vorwürfen der Wahlfälschung und im Zuge wochenlanger Massenproteste annulliert worden. Jetzt ist er möglicherweise also der nächste Präsident der Ukraine. Wir wollen darüber sprechen mit Gert Weisskirchen, dem außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion (Gert Weisskirchen übt diese Funktion nicht mehr aus, Anm. der Onlineredaktion), der in Kiew die Wahl beobachtet hat. Einen schönen guten Morgen!

    Gert Weisskirchen: Schönen guten Morgen!

    Barenberg: Herr Weisskirchen, hierzulande gilt Julia Timoschenko ja als prowestlich, Janukowitsch dagegen als prorussisch. Wenn sich die Ergebnisse so verfestigen, kann man dann sagen, in Kiew hat der Kandidat Moskaus gewonnen?

    Weisskirchen: Ja, das wird man wohl mit allem Vorbehalt so sagen können, und dennoch: Auch Julia Timoschenko hat den Ausgleich mit Moskau gesucht, in den letzten Monaten sehr intensiv. Das ist ihr zwar nicht so gelungen von der Körpersprache her, aber vom Intellekt sehr wohl. Das heißt also, wir werden, wenn die Wahlen nachher am Ende feststehen – das ist noch nicht ganz sicher, denn erst 80 Prozent der Stimmen, heißt es, sind ausgezählt worden, es gibt einen leichten Vorsprung von Janukowitsch –, dann sehen, wie es weitergeht. Voraussichtlich eher mit einem Schlingern, nicht mit einem klaren Ergebnis.

    Barenberg: Das heißt auch, Herr Weisskirchen, die Einschätzungen hierzulande, die Etiketten prowestlich auf der einen, prorussisch auf der anderen Seite, das muss man relativieren, das muss man ein bisschen differenzierter sich anschauen?

    Weisskirchen: Ja, es stimmt, aber es stimmt eben auch nicht, denn Ukraine ist eine ganze Reihe an unterschiedlichen Optionen. Dort ist alles, fast alles möglich. Aber immerhin – und das ist das Positive -, es gibt keine Aufwallung, keine Angst. Es gibt, jedenfalls nicht bisher zu erkennen, keine Auflehnung gegenüber einem möglichen denkbaren Wahlsieg für Janukowitsch. Also ich vermute mal, die Orangene Revolution wird sich in dieser Form nicht wiederholen. Eher muss man wohl feststellen, dass die Wählerschaft müde ist der Auseinandersetzungen, nun endlich einen Blick und einen Weg nach vorne sehen will.

    Barenberg: Wohin wird dieser Weg gehen? Wohin steuert die Ukraine? Haben die Menschen in der Ukraine denn, haben Sie vielleicht auch einen Eindruck bekommen, eine Antwort erhalten im Wahlkampf, in der Vorbereitung auf diese Stichwahl, auf diese Frage?

    Weisskirchen: Eher nicht. Es gab zwar harte, nachher am Ende sogar schmutzige Auseinandersetzungen, aber das Problem ist, dass die politische Klasse die Wählerschaft eher verwirrt, als sie ihnen klare Wege aufzeigt, denn das Handeln und das Verhalten der politischen Klasse, muss man sagen, ist doch eher egoistisch auf sich selbst zentriert und sieht weniger die Verantwortung für das Volk, und das ist eine der Schwierigkeiten, mit denen dieser Staat, dieser junge Staat, muss man ja sagen, zu kämpfen hat. Vielleicht besteht jetzt nun aber dennoch der Zwang, wenn es kein klares, jedenfalls überzeugendes Wahlergebnis für den einen oder für die andere gibt, sich auf Kompromisse hin zuzubewegen. Das kann man nicht ausschließen, man muss es eher sogar wünschen.

    Barenberg: Derzeit ist es ja noch so, Herr Weisskirchen, dass das Lager von Janukowitsch und dass das Lager von Timoschenko sich gegenseitig Wahlmanipulation, Fälschung vorwerfen. Welche Indizien haben Sie dafür, dass sich ein Ende dieses Dauerstreites, der ja auch die Menschen ermüdet hat, abzeichnet?

    Weisskirchen: Das ist genau das, wovor Ukraine steht. Es wird sehnlich gewünscht, dass diese Verwirrungen und Fallstricke, die sich die politische Klasse gegenseitig selber in den Weg legt, weggeräumt werden, denn die Ukraine hat gute Chancen, sich positiv zu entwickeln. In diesem Land gibt es ein erhebliches Potenzial, intellektuelles, aber eben auch eines, das nun endlich mit der Vergangenheit Schluss machen will und einen vernünftigen Weg nach vorne gehen möchte. Das sieht man auf den Straßen, dass der Wunsch nun endlich da ist, hinter sich zu lassen, was in den letzten 10 Jahren alles an schwierigen Dingen geschehen ist. Ich hoffe jedenfalls, dass selbst die beiden Kontrahenten – der dritte ist ja leider nun vorläufig ausgefallen, Juschtschenko, durch eigene Fehler – doch erkennen, dass sie eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft dieses Landes haben. Ich hoffe, beide haben durch diesen Wahlkampf und durch das Ergebnis genau das erkannt: Nur gemeinsam kann man den Weg nach vorne gehen. Ich hoffe jedenfalls, sie haben es beide gut verstanden.

    Barenberg: Herr Weisskirchen, etwas ketzerische Frage: Warum sollten wir uns hier für diese Stichwahl interessieren? Warum sollten wir uns für den Ausgang interessieren und für die Zukunft, die damit gelegt ist, in der Ukraine?

    Weisskirchen: Zu allererst einmal: Wir sind alle gemeinsam Europäer. Die Ukraine sucht einen Weg, sich der Europäischen Union anzunähern, und es gibt eine ganze Reihe an Mitgliedern der Europäischen Union, beispielsweise Polen, aber auch andere, die bemüht sind darum, dass die Europäische Union eine aktive positive Rolle gegenüber der Ukraine spielt. Das ist bislang von den ukrainischen Politikern nicht so positiv beantwortet worden, wie wir das alle wünschen und gewünscht haben, aber das schließt ja nicht aus, dass dieser Weg nach vorne gemeinsam gegangen wird, denn ein taumelnder Staat in direkter Reichweite der Europäischen Union, denn die Ukraine stößt mittlerweile an die Grenzen der Europäischen Union, das ist nicht für unsere Zukunft positiv zu sehen, sondern ein Staat, der stabil sich entwickelt, der Reformen endlich anpackt, das ist genau das, was die Europäische Union zur eigenen Sicherheit, zur eigenen Stabilität bräuchte.

    Barenberg: Einschätzungen von Gert Weisskirchen von der SPD, der außenpolitische Sprecher seiner Bundestagsfraktion. Herzlichen Dank dafür.

    Weisskirchen: Ich danke, aber das bin ich nicht mehr. Danke schön! Alles Gute.