Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Blick zurück in Leichtigkeit

Ich habe Reinhard Baumgart ziemlich gut gekannt. Und ich habe dem um ein Vierteljahrhundert Älteren kaum verhehlt, wie sehr ich seine Texte und Bücher bewundere. Sie sind gleichermaßen vital durchpulst, hochintelligent und von berückender Eleganz. Alle diese Merkmale finden sich auch in seiner Autobiographie wieder. In diesem Buch verweist Baumgart auch auf den französischen Schriftsteller Albert Camus, der ihm anfangs als heimliches Vorbild gedient hatte. Camus hat auch einmal von "der Freiheit des Herzens" gesprochen. Und er meinte damit "jenes unmerkliche Abstandwahren gegenüber den Interessen der Menschen". Und genau so, nämlich mit freundlicher Distanz, mit höflichem Staunen erzählt Baumgart von seinem Leben.

Von Walter van Rossum | 25.04.2004
    Er wurde 1929 in der Nähe von Breslau geboren. Und ein Drittel seines Buches handelt von den 15 ersten Jahren seines Lebens. Mit heiterer Melancholie besucht er den entrückten Stoff ferner Erinnerungen, begrüßt er halbversunkene Gestalten, läßt er Mädchenzöpfe noch einmal fliegen.

    Immer wieder habe ich mir vorgestellt, ich müßte nur fest die Augen schließen, nichts mehr sehen, nur noch die eigenen Schritte hören, dann tief Luft holen, schnuppern und riechen, um am sichersten zurückzufinden in dieses Haus von damals, dann hinten in den Hof und weiter unter die Kastanien im Wirtshausgarten. Blind schnüffelnd den Hausflur betreten, die Treppe nach oben wiedererkennen am nach Bohnerwachs duftenden Linoleum, und dann mit der Nase die offene Tür zum Keller finden, aus dem dünne staubige Fahnen von Kohle- und Brikettgeruch hochsteigen, gemischt mit den dumpfen Ausdünstungen der Kartoffeln und Rüben, und den säuerlichen der Sauerkrautfässer, die dort unten jeder Hausbewohner, der es sich leisten konnte, im Herbst voll stampfen und einsalzen ließ. Und mindestens zweimal in der Woche dampften aus dem Keller die seifigen Schwaden aus der Waschküche, wo alle Haushalte des Hauses, vom Proletariat unter dem Dachboden bis zu den Herrschaften der Beletage, ihr Textil kochten, rührten, walkten.

    Doch er begnügt sich nicht mit lauwarmem Schwelgen im Vergangenen, Baumgart vergißt die Gespenster der Geschichte nicht. Lange umkreist er die Figur seines Vaters, ein Arzt, der bereits 1932 Mitglied der NSDAP wurde und der später in erschreckender räumlicher Nähe zu Auschwitz seinen Dienst versah. Baumgart rechtfertigt nicht, er verdammt nicht. Er besichtigt die Widersprüche – um sie auszuhalten.

    Mein Vater war ein eher sanfter, vorsichtiger Mann, von keinerlei aggressiven oder paranoiden Wallungen heimgesucht, völlig unfähig zum Haß, eher fassungslos gegenüber aller Gewalt. Und unterstützte doch eine politische Bewegung, die Abwehrgefühle verwandelte in Aggressionstriebe, um diese dann bis zur Mordlust zu mobilisieren. Er war für seine ‚Bewegung‘, aber nicht dafür, also nicht ganz anwesend in ihr und doch von früh an dabei. Geistesabwesend bei vollem Bewußtsein, das heißt mitschuldig und unschuldig auch. Man sollte diesen fatalen Selbstwiderspruch nicht seine Tragödie nennen, aber die unbegreifliche kollektive Schuld und Unschuld vieler Deutscher seiner Generation läßt sich an seinem Fall, nein, nicht vollkommen verstehen oder gar gütig verzeihen, aber doch, meine ich, beschreiben.

    Damals heißt sein Buch, und der Titel enthält eine Geste: Als sei das Vergangene auch längst Vergangenes. Manchmal hat man den Eindruck, Baumgart begrüßt sich in der Erinnerung wie einen entfernten Bekannten. Früh habe er sich im Training der Unbelangbarkeit und der Geistesabwesenheit ertüchtigt, bekennt der Autor. Das mag durch den Krieg gekommen sein, durch die unheimlichen Verwerfungen der Zeit. Aber auch später hat Baumgart zu verstehen gegeben, dass die Skepsis seine beharrlichste Leidenschaft geworden ist. Nie ganz von dieser Welt zu sein, ohne sich im Traum zu begründen. Das mag erklären, warum Baumgart sich früh der Literatur widmete, ohne ihr zu verfallen. Über diese knapp überlebten Dresdner Bombennächte schreibt er in seinen Erinnerungen:

    Ich sehe die Augäpfel meiner Mutter drüben vor einem Kellerverschlag, nicht mehr hellblau, nur noch weiß sehe ich sie rollend aus den Höhlen treten, Tieraugen in Todesangst, und so sieht sie auch meine in diesem Augenblick, das würden wir unser Leben lang nicht mehr vergessen. (...) Ich hatte bis dahin nur einen einzigen Toten gesehen (...) und sah diese nun liegen wie Schlachtvieh oder Abfall, nackt, halbnackt, bläuliches, blutiges Fleisch in zerfetzten Kleidern, als ehemalige Menschen und einzelne unkenntlich. (...) Ich sah zu dem Leichenstapel und sah dran vorbei und fühlte – fast nichts. Nichts, außer ein leeres Grauen, nichts, was diesen Schrecken hätte auflösen können. Keinen Haß auf mit Bordkanonen ausgerüstete Jäger und Schlächter. Keine Trauer um unschuldige Opfer. Opfer wofür, unschuldig woran? Das Bild blieb leer, sinnleer, über Jahrzehnte, aber es haftete und überdeckte künftige Bilder von Leichen und Leichenhaufen. (...) ein Grauen, das sich nicht vergessen, aber auch für nichts und gegen nichts benutzen ließ.

    Reinhard Baumgart war alles andere als ein Gleichgültiger, er war ein Ungläubiger und wurde ein Ungläubiger voller Charme, einer der nur beschränkt Sinn für höchsten und letzten Sinn hatte. Vielleicht hat er auch deshalb ausgerechnet über den Begriff der Ironie bei Thomas Mann promoviert, und vielleicht hat er deshalb unentwegt neue Karrieren eingeschlagen. Meistens hat er es rasch zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hat, um sich dann auf anderen Feldern zu tummeln. Nachdem er einige Jahre als Verlagslektor zum Beispiel mit Ingeborg Bachmann gearbeitet hatte, veröffentlichte er selbst einige Prosabände, die zu großen Hoffnungen Anlaß boten. Kein Grund, gleich hauptberuflicher Romancier zu werden.

    Dann entdeckte er das Theater als Kritiker, den Film als Macher, und seinen späteren Jahren als Professor für Literatur in Berlin verdanken wir großartige literarische Abhandlungen. Addio heißt eines seiner Bücher, das vom Abschied von der Literatur als literarisches Motiv handelt. In seinen Erinnerungen spürt man wie sehr das Addio ihn selbst zeitlebens lustvoll melancholisch beseelte.

    Das hat ihn nicht daran gehindert, spät den Erzählfaden noch einmal aufzugreifen. 2002 erschienen sieben Erzählungen unter dem Titel "Glück und Scherben". Wenn man an einem intimeren Lebensbericht von Reinhard Baumgart interessiert ist, dann sollte man diese Geschichten lesen. In seiner Autobiographie wahrt er zu Menschen und Ereignissen die Distanz eines Protokollanten seiner selbst. Manchmal irritiert die Distanz – etwa wenn er seine Frau Hildegard buchstäblich im Dunklen läßt. Immerhin hat er mit ihr 50 Jahre seines und ihres Lebens verbracht und vier Kinder gezeugt. Außerdem ist Hildegard Baumgart selbst eine Autorin von Rang. Stattdessen beschreibt Baumgart in kompensatorischer Ausführlichkeit die sozialen Hintergründe und Eigentümlichkeiten der Familie seiner Frau.

    Erzählerisch ist vor allem das erste Drittel des Buches ein Genuss. Es handelt von den Jahren 1929 bis zum Kriegsende, als Baumgart 16 Jahre alt wurde. Man spürt wie der Autor schreibend den wieder entdeckt, der er einmal gewesen sein könnte - und auch die enorme Zeitstrecke, die der 70-jähriger durchlaufen hat, wie entlegen ihm seine Anfänge erscheinen, wie unwirklich, wie unbegreiflich. Auf den Seiten über die Kindheit finden auch seelische und körperliche Berührungen statt, die man sonst in dem Buch vermißt: im scheu zärtlichen Schattenriß des Vaters, in der gespenstischen Unerinnerbarkeit der Mutter.
    Der Untertitel des Buches lautet "Ein Leben in Deutschland", als wollte der Verfasser gleich klarstellen, dass es hier ums Exemplarische geht.

    Doch Reinhard Baumgart war ein viel zu lebenswarmer Autor und kluger Individualist, um nicht zu wissen, dass das Exemplarische stets im Besonderen steckt. Doch diesen Besonderen, der er durch und durch war, scheint Baumgart uns zu verbergen. Man ist versucht, an einen literarischen Helden Baumgarts zu denken: an Thomas Mann, an sein Tagebuch, von dem über 5000 Seiten erhalten sind – an diese Form akribisch unsinnlicher Lebensbuchhaltung. Über diese Tagebücher hat Baumgart in seinem wundervollen Buch Glücksgeist und Jammerseele. Über Leben und Schreiben, Vernunft und Literatur folgendes geschrieben:

    Wenn wir diese Tagebücher empfindlich lesen, also nicht als Blütenlese oder nicht enden wollende Klatschgeschichte, auch nicht als Material für einen germanistischen Zettelkasten, dann geraten wir tatsächlich immer wieder in die Nähe dieser Haut des Schreibers, in eine fast körperlich spürbare Nähe, in eine Aura aus Abwehr und Reizbarkeit, eine kühle Aura. (...) Während er uns schreibend, notierend unermüdlich den Rücken zuwendet, kommen wir hinter seinem wehrlosen, ahnungslosen Rücken dichter an ihn heran als in allen seinen uns zugewandten Schriften.

    Auch Baumgarts Erinnerungen sollte man "empfindlich" lesen: bei seinem kontrollierten Lebensbericht könnte einem glatt entgehen, dass Baumgart von sich nicht als Held seines Lebens erzählt. So wenig wie Thomas Mann als Held seiner Tagebücher erscheint, so wenig wie wir wahrscheinlich alle nicht die Helden unseres Lebens sind, sondern Protagonisten einer langen verwirrenden Improvisation. Und genau davon handelt Baumgarts Buch dann doch wieder exemplarisch: von den Wechselfällen der Improvisation, die unser aller Lebensmilieu geworden ist. Und am Ende finden wir in den versammelten Fragmenten aus Episoden und Anekdoten – kein Thema, vielleicht nicht einmal einen roten Faden, gewiß keine Vollendung. Ohne es ausdrücklich zu thematisieren, handelt dieses Buch von der Zerstreuung als Lebensbedingung des 20. Jahrhunderts. Davon sich nicht zu verlieren, wen man sich schon nicht finden kann. Und fast möchte man glauben, Baumgart habe dies bei der Niederschrift seiner Erinnerungen selbst erst im vollen Ausmaß verstanden. Am Ende seines Buches schreibt er:
    Inzwischen weiß ich ohnehin, genauer als vor dieser Niederschrift, wie unvollständig jede Lebensgeschichte erzählt wird, wie launisch und lückenhaft die Erinnerung arbeitet und wie sich ihre Bestände noch einmal verwandeln, wenn sie aufgeschrieben werden. Aber bald werde auch ich dieses Buch zur Hand nehmen und mir einbilden: das ist es , das war es, mein Leben. (...) Außer man würde noch mal von vorn anfangen und dieser ersten Fassung ein neues, ganz anderes schriftliches Leben nachschicken und gegenüberstellen, mit anderen Lücken und Dunkelkammern, anderen hellen Strecken und Ecken, anderen Zusammenhängen und Folgerichtigkeiten. Eine Weile habe ich mir das tatsächlich vorgestellt, vorzustellen versucht. Und sogar, wie sich in einer unendlichen Serie von immer neuen Niederschriften dieses eine Leben schließlich auflösen würde, unkenntlich und endgültig unerzählbar geworden.

    Mit anderen Worten: auch diese Erinnerungen sind noch Improvisation, Hypothese, eine Erzählfassung. Keine These – und das Buch enthält auch kein Namensregister. Das wird vielleicht manch einen enttäuscht haben, der sich davon eine Art indiskreter Kulturgeschichte der Bundesrepublik versprochen hatte. Doch Baumgart ist nicht nur diskret, er bleibt auch ein Zweifler an dieser Geschichte – wenigstens im Tonfall seiner Erinnerungen.
    Und so überwiegt die Skepsis über die Wirkung und Bedeutung der Künste in Baumgarts Bericht vom Geistesleben in der Bundesrepublik, in dem er wohlgemerkt eine feste und äußerst geschätzte Größe darstellte. Entschlossen verkürzt Baumgart seine Erinnerungen aufs Anekdotische, auf Badeurlaub mit dem Schriftsteller Martin Walser, auf Partys bei dem Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein, Zankereien mit dem Philosophen Jürgen Habermas.

    Ferienbilder, Gruppenbilder vor dem dunklen oder grellen Hintergrund der zeitgeschichtlichen Umbrüche und Schübe, fauler Zauber der Ungleichzeitigkeit, immer wieder und wieder. Auch in den Sylter Ferienwochen der drei Sommer 1966, 1967 und noch 1968, wo einmal noch am Strand, in den Dünen und am langen Ferientafeln alle zusammenkamen, die es bald auseinandertreiben sollte: Familie Walser und das Ehepaar Augstein, der Konkret-Chef Röhl und seine Frau Ulrike Meinhof, Siegfried Unseld, Freimut Duve und seine ägyptische Gulnar, Christa und Klaus Dohnany, das Paar Coulmas aus Köln und eben wir und dazu Kinder, Kinder und das Versteckspiel mit heimlichen oder schon halb legitimierten Nebenlieben.

    So ist er, sagte Augstein, als der Verleger Unseld mitten im Gespräch aus unserer Dünenkuhle aufsprang, weil er unten an der Wasserlinie nackt einen wichtigen Professor und Herausgeber erkannte hatte, zu dem er nun wuchtig (...) hinunterlief und sich noch im Laufen die Badehose herrunterriss, um höflicherweise nackt mit dem nackten wichtigen Mann ein offenbar dringendes Gespräch aufzunehmen: So ist er, wird dich immer stehen und im Stich lassen, wenn ihm irgendwer oder irgendwas wichtiger ist als du.


    Ohne jede Herablassung spricht Baumgart von der Hochkultur der letzten 50 Jahre wie von einem großen Sandkasten, in dem sich allerhand liebenswerte, aber auch jede Menge sonderbare Gefährten tummeln. 1967 lud ihn Theodor W. Adorno zu den berühmten Frankfurter Poetikvorlesungen ein. Die Vorlesungen selbst scheinen Baumgart nicht mehr viel zu bedeuten. Eher erinnert er sich an die Persönlichkeit von Adorno:

    Damals saß in jeder Vorlesung in der ersten Reihe Theodor W. Adorno, der kleine Mann mit dem großen, kahl glänzenden Kopf, und eine ununterdrückbare Freude erhellte sein Gesicht, wann immer ich ihn zitierte, und er wurde oft zitiert als Nothelfer und Orakel, ja als der eigentliche spiritus rector meiner Versuche, der Literatur eine Zukunft nach der Moderen zu erdenken. War er denn so selbstbezogen, so unsicher und verletzlich, so sehr einer beständigen Bestätigung bedürftig, so eitel also der kleine große Mann, der so souverän noch die unscheinbarsten Alltagswahrnehmungen verwandeln konnte in die diagnostischen Sätze seiner Gedankenmusik? Ja, eitel und versponnen konnte er wirken und war er wohl auch, aber alles an ihm, ob es groß war oder klein schien, war durchdrungen von einer grandiosen Kindlichkeit, einer Zartheit und Unschuld, wie ich sie nie vorher oder nachher an einem sogenannten Erwachsenen erlebt habe. Und deshalb konnte, mußte man Adorno mehr als nur bewundern, schätzen, verehren. Er war im schlichten Wortsinn eben auch: liebenswert.

    Reinhard Baumgart war ein viel zu raffinierter, viel zu bewußter Schriftsteller als dass ihm eine solche Leichtigkeit einfach unterlaufen wäre. Es scheint vielmehr, als sei diese Leichtigkeit, dieses freundschaftliche Achselzucken seine Botschaft. Vielleicht hat sie in diesem Ausmaß am Ende den Autor selbst überrascht. Der letzte Satz seines Buches lautet: "Zeit also, nun endlich aufzuhören."

    Reinhard Baumgart
    Damals. Ein Leben in Deutschland
    Hanser, 385 S., EUR 24,90