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Blind vor Illusionen

Tiefer Defätismus ist ein Hauptmerkmal der literarischen Welt von Richard Yates. Was seine Figuren allesamt charakterisiert, ist nicht nur der notorische Griff zum Gin, sondern auch der notorische Selbstbetrug. Das gilt auch für den Roman "Easter Parade".

Von Ursula März | 25.05.2007
    In der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts wird von Hemingway über Carver bis zu T.C. Boyle mit Alkohol nicht gegeizt. Die Verbotsgeschichte der Prohibition wirkte offensichtlich stimulierend und verhalf dem Trinken beziehungsweise den Trinkern zu literarischen Ehren. Aber bei keinem anderen amerikanischen Schriftsteller aber spielt der Alkohol eine so ausschlaggebende Rolle wie bei Richard Yates.

    In "Easter Parade", dem zweiten, auf deutsch erschienenen Roman des erst in den vergangenen Jahren wiederentdeckten und postum gefeierten Klassikers, säuft sich Sarah, eine der beide weiblichen Hauptfiguren, buchstäblich zu Tode. Am Ende kann sie vor Schwäche und Benommenheit kaum mehr die Wohnzimmercoach verlassen, nur noch mit Mühe das Glas halten, das ihr Mann, einer ihrer drei Söhne oder ihre Schwester Emily, die andere Hauptfigur, am laufenden Band nachfüllen. Sarah ist der drastischste Trinkerfall in diesem Roman, aber natürlich nicht der einzige.

    Alkohol in ruinösen Mengen ist aus den Geschichte Richard Yates, der 1926 im Bundesstaat New York geboren wurde, so wenig wegzudenken wie aus seinem krisengeschüttelten, taumelnden Leben. Yates trank selbst sein Leben lang, war, davon abgesehen, auch dann noch Kettenraucher, als er im Endstadium der Atemnot künstlichen Sauerstoff benötigte - er war der Sohn einer Trinkerin und der Bruder einer fünf Jahre älteren Schwester, die wie ihr literarisches Alter Ego Sarah im Alter von 47 dem Alkoholleiden erlag. "Easter Parade" erzählt das Leben der beiden Schwestern von den 30ern bis in die 70er Jahre und basiert weitgehend auf autobiografischer Realität. Nur sind es im Roman nicht ein Junge und ein Mädchen, sondern zwei Schwestern, Emily und Sarah, denen nach der Scheidung der Eltern das Vagabundenleben mit einer törichten Mutter aufgezwungen wird. Sie gibt ihr Existenzprogramm aus Sucht und Selbstbetrug an die Kinder weiter, die auf keinen Fall werden möchten wie die Mutter und doch im gleichen Desaster enden. Sarah stirbt. Emily, die unverheiratet bleibt, keine Kinder bekommt, in der New Yorker Werbeszene Karriere macht und einen Berg von Männergeschichten abarbeitet, steht am Ende einsam und arbeitslos da. Äußerlich verlief ihr Leben entgegengesetzt zu dem ihrer Schwester. Innerlich versackt es in der gleichen am mütterlichen Vorbild geschulten Depression.

    Tiefer Defätismus ist ein Hauptmerkmal der literarischen Welt von Richard Yates. Was seine Figuren allesamt charakterisiert, ist nicht nur der notorische Griff zum Gin, sondern der notorische Selbstbetrug. In "Zeiten des Aufruhrs", Yates' Meisterwerk, gibt sich das junge Ehepaar Frank und April Wheeler der fixen Idee hin, ihre großen, in der Kleinfamilienhölle blitzartig verglühten Jugendträume vom Künstlerleben durch einen Umzug nach Europa neu entfachen zu können. Blind vor fanatischen Illusionen weigern sie sich zu erkennen, dass die Zukunft nur eine einzige Veränderung für sie bereit hält: Die Vertiefung ihres emotionalen und existentiellen Desasters. Der American Dream, das Herzstück amerikanischer Erfolgsmentalität, zeigt sich bei Richard Yates von seiner pervertierten Rückseite, als idiotische Spinnerei. Alkohol ist der Treibstoff der Vernebelung.

    "Easter Parade" ist, verglichen mit "Zeiten des Aufruhrs" der etwas schwächere, das heißt, nicht ganz so herausragende Roman. Er besitzt weder die gleiche Wucht kalten Zorn, die in jeder Sentenz auf Eskalation zielende Erzählspannung, noch die differenzierte Gebrochenheit der Charaktere, aber das gleiche Thema: wie Menschen an ihren Einbildungen zu Grunde gehen. Emily hält jede flüchtige Männergeschichte für eine große Hoffnung. Sarah glaubt, ihre Seele, ihre Gesundheit und ihre Ehe retten zu können, wenn sie sich endlich aufraffen würde, das düstere, vergammelte Landhaus zu renovieren, in dem sie sich zu Tode trinkt. Selbstbetrug, Zigaretten und Alkohol gehören bei Yates zusammen, sie sind gleichsam die erzählerische DNA seiner Romane, Erbgut, das von Generation zu Generation weitergibt. Sarah und Emilys Mutter ist überzeugt davon, eine geborene Künstlerin zu sein, die eigentlich auf die Bühne gehört. Aber sie lebt im Sessel mit Alkohol und Zigaretten.


    Richard Yates: Easter Parade
    Aus dem Amerikanischen von Anette Grube.
    DVA, München, 2007
    296 Seiten, 19,90 Euro