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Judentum
Auf die Frauen kommt es an

Masorti folgen streng dem jüdischen Gesetz, aber sie lehnen die Diskriminierung von Frauen ab. Es gibt Rabbinerinnen, Mädchen dürfen gleichberechtigt vorbeten. Nitzan Stein Kokin ist die erste in Deutschland ordinierte Masorti-Rabbinerin, das Judentum brauche noch Nachhilfe in Sachen Geschlechtergerechtigkeit, meint sie.

Von Gerald Beyrodt | 16.01.2018
    Nitzan Stein-Kokin am Tag der Ordination mit dem Tallit (Gebetsschal) des Zacharias Frankel College.
    Nitzan Stein-Kokin am Tag der Ordination mit dem Tallit (Gebetsschal) des Zacharias Frankel College. (Tobias Barniske)
    Mit den Töchtern kam die Veränderung. Jahrelang hielt sich Nitzan Stein Kokin in Israel und den USA in der jüdischen Orthodoxie auf und kämpfte gemeinsam mit anderen orthodoxen Frauen für Gleichberechtigung. Ihr selbst genügten die kleinen Schritte: dass sie auf einer Talmudschule für Frauen diskutieren durfte, einer Frauenjeschiwa - solche Bildungseinrichtungen gab es früher nicht; dass Frauen die Bibelrolle bei progressiveren Orthodoxen wenigstens auf der Frauenempore berühren dürfen, wenn sie schon getrennt von den Männern und weit weg vom Gottesdienstgeschehen sitzen müssen. Für die Töchter reichten die kleinen Schritte nicht mehr, fand Nitzan Stein Kokin. Die sollten in der Synagoge dieselben Rechte haben wie Männer.
    Sie erzählt: "Ich wollte wirklich, dass meine beiden Töchter in einer Umgebung aufwachsen, wo sie das Gefühl haben, sie können und dürfen alles tun. Sie können vorbeten, sie können Tora lesen, sie sind nur deshalb, weil sie Mädchen sind, nicht gehindert an irgendwas. Das hat dann für mich den Ausschlag gegeben, hier in Berlin in die Masorti-Synagoge zu gehen."
    Sich dem liberalen oder Reformjudentum anzuschließen, das wäre für Nitzan Stein Kokin nicht in Frage gekommen. Dort sind Frauen zwar gleichberechtigt, aber Reformjuden wählen aus, an welche der Vorschriften des jüdischen Gesetzes, der Halacha, sie sich halten wollen oder und an welche nicht - ob sie es zum Beispiel für wichtig halten, ihre Küche koscher zu halten. Zu beliebig für die Frau, die lange ihr Haar nach orthodoxer Sitte mit einem Hut bedeckte. Nitzan Stein Kokin hält das jüdische Gesetz als Ganzes für verbindlich. Und deshalb gehört sie zur Masorti-Bewegung. Masorti bedeutet übersetzt "traditionell". Häufig nennt sich die jüdische Richtung auch "konservativ", weil es um die Bewahrung der Tradition geht.
    Keine U-Bahn am Schabbat
    Sie sagt: "Eine Kombination aus Respekt vor der Tradition, sich in die Überlieferung hineinstellen, die wir bekommen haben, aber sie auch nach unserem modernen Verständnis weiter zu formen. (...) Gleichstellung der Frau, traditioneller Gottesdienst, viel Hebräisch, auch halachisch korrekt, (...) oder auch zum Beispiel am Schabbat in Berlin in die Synagoge das U-oder S-Bahnnetz zu benutzen, weil sich ein Rabbiner damit beschäftigt hat, dass es halachisch eben doch möglich ist, jetzt speziell in Berlin mit einer Monatsfahrkarte zu fahren am Schabbat."
    Viele orthodoxe Rabbiner verbieten das U-Bahn-Fahren oder Autofahren gänzlich am Schabbat. Der Grund: Am heiligen Tag soll nicht gearbeitet werden. Elektrischen Strom ein- und auszuschalten oder ein Auto anzulassen, gilt als Arbeit. Das stellt Juden in der Großstadt allerdings vor Probleme. Die orthodoxe Synagoge, sagen Lästerzungen daher, ist die Synagoge, von der man das Auto drei Straßen entfernt parkt. Sehr fromme orthodoxe Juden achten darauf, in der Nähe der Synagoge zu wohnen. Liberale Juden haben hingegen in der Regel kein Problem, auch am Schabbat die U-Bahn zu benutzen.
    Masorti-Rabbiner erlauben das U-Bahn-Fahren am Schabbat in Berlin mit Monatskarte. Und jedes dieser Worte spielt eine Rolle für die Entscheidung. Die U-Bahn in Berlin werde von Nicht-Juden aus eigenem Interesse betrieben. Das ist wichtig, weil es verboten ist, andere am Schabbat für sich arbeiten zu lassen. Nur ein Bruchteil der Nutzer seien Juden. In diesem Fall sei es erlaubt, von der Arbeit der Nicht-Juden am Schabbat zu profitieren. Die Entscheidung würde bei der Nutzung des öffentlichen Busses am Schabbat in Haifa völlig anders ausfallen. Auch die Monatskarte ist wichtig. Am Schabbat dürfen Juden kein Geld bezahlen oder annehmen, keine Verträge abschließen, ja dem jüdischen Gesetz der Halacha, noch nicht einmal Geld mit sich führen. So wäre der Kauf eines Einzeltickets ein Problem.
    Perücke oder nicht?
    Als der konservative Zacharias-Frankel-Campus in Potsdam vor fünf Jahren gegründet wurde, da feierten konservative und liberale Rabbiner und Rabbinatsstudenten gemeinsam auf einem Boot auf der Spree, stießen auf die Zukunft an und bissen einträchtig in die koscheren Häppchen. Tatsächlich sitzen konservative und liberale Juden in Deutschland in einem Boot, denn die Frage, welche Rolle Frauen im Gottesdienst spielen, ist die wesentliche Unterscheidung in Deutschland. So treffen sich konservative und liberale Rabbiner in der allgemeinen Rabbinerkonferenz, orthodoxe Rabbiner haben hingegen eine eigene Konferenz und ein eigenes Rabbinatsgericht.
    In Deutschland trennten sich einst konservative und liberale Juden von denen, die weiterhin so traditionell lebten wie bisher und nannten sie, etwas abwertend, orthodox. Die Bezeichnung hat sich bis heute erhalten. Eine wichtige Frage war damals ganz praktisch: ob Frauen ihr eigenes Haar weiterhin mit einer Perücke bedecken sollten oder nicht. Konservative und liberale brachten die Wissenschaft ins Judentum und erforschten Talmud und Tora historisch-kritisch. Sie stellten die Weichen für die heutigen Diskussionen im Judentum. Und während Rabbinatsstudenten vorher an der traditionellen Jeschiwa, der Talmudschule lernten, entstand in Deutschland das erste Rabbinerseminar mit Universitätsstandards. Rabbiner Zacharias Frankel gründete 1854 das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau. Historisch-positiv nannte sich die Bewegung damals, die heute konservativ oder masorti heißt. Schon damals stand sie für Respekt vor der Halacha und der jüdischen Überlieferung genauso wie für historisch-kritische Textlektüre, sagt der Judaist Carsten Wilke.
    "Wenn wir historische Autorität anerkennen, dann kommen wir auch zu einem Respekt für die Schöpfungen des Judentums. Auf diesen Respekt gründet die spätere konservative Bewegung, die positiv-historische Bewegung, indem sie sagt, all das, was sich im Laufe der Jahrhunderte, der Jahrtausende im Judentum herausgebildet hat, soll auch Autorität für uns bewahren, insofern die jüdische Gemeinschaft an diesen Traditionen festhält."
    Fräulein Rabbiner Jonas
    Später als die liberale Bewegung haben die Konservativen das Rabbinat für Frauen ermöglicht. Die Liberalen ordinierten bereits 1935 – im Jahr der Nürnberger Rassegesetze also - die weltweit erste Frau zur Rabbinerin: die Berlinerin Regina Jonas. Fräulein Rabbiner Jonas nannte sie sich. Noch im Konzentrationslager Theresienstadt hielt sie Vorträge zu jüdischen Themen – die Ankündigungsplakate sind erhalten geblieben. 1944 wurde sie in Auschwitz ermordet. Nach einer langen Pause ordinierten amerikanische Liberale 1972 wieder eine Frau. Erst 1983 absolvierten die ersten Frauen das Rabbinatsstudium am Jewish Theological Seminary. Bis heute ist die Gleichberechtigung der Geschlechter im Gottesdienst, der so genannte egalitäre Gottesdienst, nicht in allen Masorti-Synagogen selbstverständlich, sagt Nitzan-Stein Kokin:
    "In der Synagoge, wo ich Praktikum gemacht habe in London, die waren da im Prinzip mittendrin, und die haben sich so entschieden, dass sie an zwei Schabbatot im Monat weiterhin nicht egalitär beten."
    Den orthodoxen Hut hat Nitzan Stein Kokin inzwischen aufgeben. Frauen, die einen Hut, ein Kopftuch oder eine Perücke tragen, geben mit der Kopfbedeckung im traditionellen Judentum zu erkennen, dass sie verheiratet sind. Stattdessen trägt die Rabbinerin eine Kippa - eine Kopfbedeckung, die im orthodoxen Judentum nur Männer tragen.
    Auch mit der Kippa zeige man Respekt nach oben, vor Gott, sagt sie.
    "Was mir daran wirklich wichtig ist, zu zeigen, dass ich ein religiöser jüdischer Mensch bin."